verschiedene Schreibweisen, Wasserscheid, Wasserscheit, obwohl sie sich sicher ist, dass dt stimmt. Nichts. Nach Google versucht sie es mit Yahoo, Bing, AOL. Auch hier nichts. Wie hieß bloß der Schulwart mit Vornamen? Herr Wasserscheidt, dürfen wir neue Kreiden haben? Bitte, Herr Wasserscheidt, können Sie den Turnsaal aufsperren? Herr Wasserscheidt, vor der Schule hat der Wind einen Ast geknickt. Der gehört abgeschnitten, hat die Frau Professor gesagt. Immer Herr Wasserscheidt, nie ein Vorname. Es ist doch gar nicht sicher, dass er mit der Gesuchten überhaupt verwandt oder verschwägert war, nur so verbreitet ist der Name auch wieder nicht. Dass ihr das nicht schon damals auffiel, nachdem Wilfried den Beleg hervorgekramt hatte. Für sie war Wasserscheidt bloß ein Name, den sie mit einem fahrigen Schulwart verband, der kaum je gesprochen hatte, und wenn doch, dann war es ein unverständliches Gemurmel gewesen. Nie hatte er einen angesehen, war immer mit gesenktem Kopf durch die Gänge geschlurft. Sie war dem Mann stets ausgewichen, nicht etwa, um einen Zusammenstoß zu vermeiden, sondern wegen des eigenartig strengen Geruchs, der von ihm ausgegangen war. Dass die in Wilfrieds prägnanter Schrift festgehaltene Grete Wasserscheidt etwas mit dem Schulwart zu tun haben könnte, daran dachte sie damals nicht. Ob einer der beiden Wasserscheidts noch lebt? Unwahrscheinlich, sonst wären die Suchmaschinen im elektronischen Telefonbuch fündig geworden.
Die Frau Professor hat gesagt, der Ast gehört abgeschnitten. Die Frau Professor. Beim letzten Maturatreffen, zu dem Carola wegen der runden Zahl ausnahmsweise hingegangen war, wurde doch erzählt, dass von allen Lehrkräften der Klasse nur noch eine lebte und gerade erst ihren 90. Geburtstag gefeiert hatte: Frau Professor Dirkmann. Deutsch und Geschichte. Carola erinnert sich an eine zarte, stets sorgsam gekleidete Frau mit ungewöhnlich kurzem Haarschnitt, der im Widerspruch zu Dirkmanns braven Röcken und Blusen stand. Bei Dirkmann hörte Österreichs Geschichte mit dem Ersten Weltkrieg auf, was damals üblich war, doch in Deutsch nahm sie auch Gedichte von Franz Werfel, Erzählungen von Arthur Schnitzler und, wenn sich Carola recht erinnert, sogar ein Stück von Bertolt Brecht durch, was sicher nicht im Lehrplan vorgesehen war. Überhaupt hat die Dirkmann den Geschichtsunterricht eher heruntergespult, während sie in Deutsch immer wieder nachbohrte, ob denn ›die Damen‹ schon Oskar Werner als Hamlet gesehen oder etwas von der Wiener Gruppe gehört hätten. Da war Carola die Einzige, die zuweilen aufzeigte. Diese außerschulische Bildung hatte sie ihrer belesenen und theaterbegeisterten Mutter zu verdanken.
Ohne viel Hoffnung, das Maturajubiläum ist immerhin bereits fünf Jahre her, sucht Carola nach Dirkmann im elektronischen Telefonbuch. Obwohl sie wieder keinen Vornamen weiß, erkennt sie sofort, wer unter den Dirkmanns ihre alte Professorin ist: Dirkmann Johanna, Dr. In der Praterstraße wohnt sie. Das ist ja nicht weit von hier. Hingehen und klingeln? Eine Greisin einfach so überfallen, das gehört sich nicht. Sie muss vorher anrufen, doch womöglich ist die alte Dame schwerhörig oder es hebt eine rumänische Pflegerin ab, die sowieso nicht versteht, was Carola will. Trotzdem. Aus Höflichkeit muss Carola eines der ungeliebten Telefonate führen. Blöder als bei Toni wird sie sich schon nicht anstellen. Sie wählt die angegebene Festnetznummer.
- Dirkmann.
Die Stimme klingt fest. Sie könnte auch einer viel jüngeren gehören.
- Guten Tag. Hier spricht Carola Broggiato.
- Ah, die Tochter von Carlo Broggiato, dem Architekten der Miesbach-Villa.
Carola ist verblüfft. Die Dirkmann antwortet, als wäre dieser Anruf einer ehemaligen Schülerin, die nie mit ihr Kontakt gehalten hat, normal. Und dann sofort die Bezugnahme zu Carolas Vater. Er ist doch bloß ein paar Insidern geläufig, wenn überhaupt.
- Carola, bist du noch dran?
- Ja. Woher kennen Sie meinen Vater?
- Bitte siez mich nicht, wir sind doch seit eurem Klassentreffen 1987 alle per Du. Bei deinem Werdegang, liebe Hofrätin, bist du zudem mehr als bloß auf Augenhöhe mit mir.
Carola will nicht schon wieder vor Erstaunen verstummen oder darauf hinweisen, dass sie 1987 nicht dabei war, deshalb hakt sie rasch nach:
- Woher wissen Sie, pardon, woher weißt du das alles?
Ein schallendes Gelächter ist die Antwort, das nur gegen Ende bricht und die uralte Frau verrät, die es angestimmt hat.
- Ach Kinderl …
Von wegen Augenhöhe!
- … wenn du so wie ich jahrein, jahraus die Gesichter vor dir gehabt, im Klassenbuch Eintragungen gemacht, Hausübungen und Schularbeiten korrigiert und zahllose Maturatreffen besucht hättest, dann wäre auch bei dir viel hängengeblieben. Selbst wenn ich vollkommen dement wäre, würde ich noch die Namen aller Schülerinnen und später Schüler nach Klassen geordnet und in alphabetischer Reihenfolge aufsagen können. Und so manchen familiären Hintergrund dazu. Als Deutsch-Professorin erfährst du viel, vor allem von den Kleinen. Aber bei dir war das anders.
- Wieso?
- Ich bin in Döbling gleich neben den Miesbachs aufgewachsen und habe den Baufortschritt beim neuen Haus gespannt verfolgt.
- Warum haben … hast du mir das nie gesagt?
- Hm …
Frau Dr. Dirkmann zögert. Wegen Vater?
- … als ich euch unterrichtete, habe ich noch versucht, mir durch Distanz Respekt zu verschaffen.
- Aber für uns waren doch alle Lehrkräfte Autoritäten, gegen die wir nicht aufmuckten.
- Ja, schon, nur ich war neu an eurer Schule und musste mich erst beweisen. Das tat ich, indem ich Abstand hielt.
Carola spürt, dass das nicht die ganze Wahrheit ist, bohrt jedoch nicht weiter. Vielleicht erfährt sie mehr, wenn sie Johanna Dirkmann direkt gegenüber sitzt. Himmel, sie hat ja noch gar nicht den Grund ihres Telefonats genannt!
- Verstehe. Übrigens, mein Anruf hat auch mit der Schule zu tun.
Ein gedehntes Ja ist Dirkmanns Reaktion, genau in dem Tonfall, den sie anschlug, wenn Schülerinnen bei der Beantwortung einer Prüfungsfrage ins Stocken geraten waren. Es ist bloß ein vages Gefühl, das Carola veranlasst, den Namen Wasserscheidt nicht zu erwähnen und neutral zu fragen, ob sie einmal persönlich vorbeischauen dürfe. Egal, wann. Die Antwort überrascht sie erneut:
- Wie wär’s mit heute Nachmittag, aber du musst etwas mitbringen.
- Was?
- Ein Stück Esterhazy-Torte vom Heiner.
XVI.
Der grau verhangene Himmel nimmt den Häusern, Straßen und Menschen jegliche Farbe. So zumindest kommt es Gitta vor, als sie verschlafen aus dem Fenster blickt. Was Licht nicht alles ausmacht! Den Verdrüsslichen einen Schatten auf den Kinderkopf werfen lassen, das könnte einen speziellen Effekt hervorrufen. Aber was will sie damit bezwecken? Doch nicht, dass das Kind im Dunkeln ist. Wie kommt sie überhaupt auf diese absurde Idee? Gitta schüttelt den Kopf.
- Mama, was hast du?
Bernhard schaut sie über den Frühstückstisch hinweg groß an.
- Ach, nichts, ich habe mich nur über das Wetter gewundert.
- Wieso?
- So halt.
Sie essen schweigend weiter. Gitta hat die Tablette neben die Kaffeetasse hingelegt. Zum Frühstück soll sie eine nehmen, nicht schon davor, und mit viel Wasser, damit sie in den Magen gespült wird, nicht in der Speiseröhre hängen bleibt oder am Gaumen klebt und wieder ausgespuckt wird. Gestern die Hebel, hat mit ihr gesprochen, als ob sie ein Kind wäre und nicht wüsste, wie Pillen geschluckt werden. Was macht dieses kleine flache Ding? Fröhlichkeit ins Hirn schießen? Alles abtöten, was nicht normgerecht ist?
- Mama, du hast schon wieder so gemacht.
Bernhard schüttelt den Kopf wie ein regennasser Pudel. Gitta lacht.
- Ach, Bernhard. Das sind bloß meine Gedanken. Wenn zu viele auf einmal anklopfen, muss ich ihnen sagen, dass sie mich in Ruh lassen sollen.
- Wo