die winzige Tasse auf dem Eichentisch ab. Warum dachten immer alle, Ostfriesen müssten Tee trinken? Er konnte das labbrige Zeug nicht ausstehen. Backemoor hin oder her.
»Um wie viel Uhr haben Sie es knallen gehört?«, fragte er.
Annemie warf einen Blick auf das Ziffernblatt der hölzernen Standuhr neben der Vitrine. »Um drei?«
Es klang wie eine Frage, und er wartete, ob sich Annemie korrigieren würde. Sie tat es nicht. »Also um drei Uhr?« Seine Stimme dröhnte durch den mit Möbeln und Porzellanfiguren vollgestopften Raum. Er hatte seine Probleme mit der Zeitangabe. Feuerwehr und Polizei waren erst viel später benachrichtigt worden. Das musste aber nichts heißen. Die Ereignisse hatten die Frau offenbar sehr verwirrt.
»Du machst meine Frau kirre«, mischte sich Kurt Tietjen ein. »Merkst du nicht, dass sie noch ganz durcheinander ist? Unser Haus hätte abfackeln können … Wahrscheinlich müssen wir wegen des Brandgeruchs renovieren!«
Das waren ja ganz neue Töne von einem, der eben noch die Rettungskräfte am Löschen hatte hindern wollen. Das Wort »Versicherungsbetrug« tauchte in Okes Kopf auf.
Gern hätte er gewusst, wie sein Kollege die Sache einschätzte. Aber der Hibbelmoors war gerade schon rausgelaufen, um die Kollegen von der SpuSi zu unterstützen. Während er selbst zwischen zwei Sessellehnen feststeckte.
Eine gute Stunde später traf Oke auf der Hohwachter Wache ein. Vor der Tür parkte schon wieder Jana Schmidts Wagen. Dann holte sie jetzt wohl tatsächlich den letzten Karton.
Mit einem Ruck riss er einen verblassten Fahndungsaufruf von der Eingangstür ab. Ein bräunlich verfärbter Klebestreifen blieb haften und er rubbelte diesen, so gut es ging, mit dem Daumennagel ab. Es wurde Zeit, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass ein neues Kapitel anbrach – längst angebrochen war. Irgendwann würde es nur noch Müllabfuhr-Tage und keine Polizei-Tage mehr in Hohwacht geben.
Wenn er gehofft hatte, dass seine Kollegin ihn mit frisch gebrühtem Kaffee begrüßen würde, sah er sich getäuscht. Das Großraumbüro wirkte kahl, nachdem Jana Schmidt ihren Schreibtisch nun komplett geräumt hatte. Die beiden Fotorahmen mit den Aufnahmen ihres inzwischen verschiedenen Karotten-Meerschweinchens Toto fehlten, ebenso die chinesische Winkekatze und der Plüschteddy, den sie vor Jahren beim Bremer Freimarkt gewonnen hatte. Der Raum war überdies menschenleer.
»Oh, Moin, Herr Oltmanns. Ich bin eigentlich schon fast wieder weg«, sagte sie, als sie aus dem Bad kam. Der Pferdeschwanz saß wie immer fest am Kopf. Der Anblick ihres wippenden Zopfes würde ihm ebenso fehlen wie die Meersäue.
Sie lächelte ihn an: »Könnten Sie vielleicht noch beim letzten Karton mit anfassen? Da müsste jetzt wirklich alles drin sein. Ich hoffe, wir kriegen ihn in den Käfer.« Oke tat ihr den Gefallen, bückte sich und packte das unhandliche Teil mit beiden Händen. Noch beim Hochkommen durchzuckte ihn ein ungeahnter Schmerz: »Arg!«
Der Karton rutschte ihm aus den Händen. Ein Stifthalter, zwei Kugelschreiber und andere Kleinigkeiten wie Heftklammern fielen heraus und verteilten sich über der blauen Auslegeware. Ein Flummi hüpfte auf und nieder. Oke landete erst auf den Knien und sank dann seitlich unter den Schreibtisch der Kollegin. Anders als der Flummi kam er nicht ein einziges Mal wieder hoch.
»Oh mein Gott!«, rief Jana Schmidt, während Oke ungefähr zur selben Zeit ein »Düvel ok ne!« ausstieß. Vor Schmerzen fiel ihm das Atmen schwer.
Jana Schmidt konstatierte: »Hexenschuss – oder was Schlimmeres.« Ihre Stimme klang ungewohnt besorgt.
Einen Augenblick später wusste Oke, warum sie so unruhig wirkte: »Lassen Sie mich los! So geht das nicht, Frau Schmidt!«, grantelte er mit erstickter Stimme, während sie mit hochrotem Kopf an seinem rechten Bein zog.
»Ich ruf einen Krankenwagen«, entschied seine ehemalige Kollegin in resolutem Ton.
»Keinen Krankenwagen!«, japste er hinter ihr her.
In dem Moment ging die Glastür der Wache auf und Sieglinde Meyer schlurfte hinter ihrem Rollator in das Großraumbüro. »Herr Oltmanns?«, hörte er sie nach ihm rufen. Die 102-jährige Anwohnerin des Strandwegs ließ nur wenige Sekunden verstreichen, dann rief sie erneut: »Herr Oltmanns! Wo sind Sie? Heute ist Dienstag! Ihr Dienst-Tag, und ich will sofort Anzeige erstatten!«
Oke sah von seiner Warte aus nur die mattschwarzen Gesundheitsschuhe mit dem Klettverschluss und einen Teil ihrer auf Falte gebügelten Stoffhose. Die Meyersche hatte offenbar nicht mitbekommen, dass er nicht an seinem Schreibtisch saß. »Hier unten!«, dröhnte Oke schlecht gelaunt.
Sieglinde Meyer bückte sich. Oke sah in ein fragendes Gesicht, das ihn an eine schrumpelige Kartoffel denken ließ. »Was machen Sie da?«, krächzte sie verwundert.
Er wusste, dass sie die Ironie nicht verstehen würde, aber er sagte trotzdem: »Verbreker söken.«
Endlich beendete Jana Schmidt ihr Telefonat. Sie hatte gegen seinen ausdrücklichen Willen das Plöner Krankenhaus angerufen. »Wenn Sie Anzeige erstatten wollen, Frau Meyer, müssen Sie jetzt nach Lütjenburg fahren«, informierte sie die Dorfälteste. So unbarmherzig kannte er seine ehemalige Kollegin gar nicht. Vermutlich machte sie sich wirklich Sorgen um ihn – oder sie hatte zu lang mit einem Bullerjan gearbeitet …
Die Meyersche fasste sich ans Ohr. »Haben Sie Lütjenburg gesagt, junge Deern? Mit dem Ding soll ich nach Lütjenburg hin?« Sie stieß mit dem Fuß gegen die Gehhilfe. Da hatte Hallbohm es: Mit dem Rollator waren neun Kilometer eine ganze Ecke.
»Haben Sie wieder die Kerle mit den Taschenlampen gesehen?«, fragte Oke unterm Tisch liegend. Schließlich kannte er seine Pappenheimer. Und der Meyerschen würde er noch hundertmal erklären müssen, dass die »Kerle« nur Jugendliche waren, die auf virtuelle Pokémons Jagd machten.
In der Notaufnahme im Plöner Kreiskrankenhaus wollte eine zierliche Ärztin wissen, ob die Schmerzen vom Rücken ins Bein ausstrahlten. »Ne«, antwortete er knapp.
Die Ärztin konfrontierte ihn nun mit einer Feststellung, die ihm nicht viel sagte: »Sie haben vermutlich eine Bandscheibenvorwölbung.« Er erhaschte einen Blick auf ihr Namensschild: »Dr. Holtzbrink«, stand darauf.
Es hatte ihm nie viel ausgemacht, in seiner Werkstatt Tiere zu zerlegen. Über die Beschaffenheit seiner eigenen Bandscheibe hingegen wollte er nicht nachdenken. Oke wollte weder hören, dass »jede unserer 23 Bandscheiben im Inneren aus einem Gallertkern besteht«, noch, »dass sie von einem harten Faserring in Position gehalten« würden. Und schon gar nicht wollte er von Dr. Holtzbrink wissen, »dass mit dem Alter die Elastizität des Rings nachlässt«.
Die Ärztin ignorierte sein gelegentliches Stöhnen: »Es passiert gar nicht so selten, dass der Gallertkern den Faserring durchbricht. Dann kommt es zum Prolaps.« Bei dem Gedanken daran, dass in seinem Körper irgendwo etwas Gallertartiges herausquoll, wurde ihm ganz anders.
Ob es sich um eine Vorwölbung oder sogar um einen Riss handele, könne niemand ohne weitergehende Untersuchung sagen, dozierte Holtzbrink. »Ich kann Sie einweisen. Dann wissen wir bald mehr.«
Einweisen. Das Wort hallte in seinem Kopf. Oke rappelte sich ächzend hoch: »Niemand weist mich ein!«
Eine Stunde später hatte Inse ihn zwischen zwei kratzige Paillettenkissen drapiert; die Knie durch Unterlegen einer Getränkekiste samt Wolldecke im 90-Grad-Winkel angewinkelt. »So, das entlastet jetzt wunderbar die Bandscheiben.« Mit diesen Worten hauchte sie ihm einen Kuss auf die gerunzelte Stirn und er war umgeben von einem Hauch Honigduft. Seit sie auf dem Bienen-Trip war, wusch sie ihr Haar nur noch mit Tildas selbstgefertigtem Honigshampoo.
Mit der Getränkekiste konnte er sich vielleicht abfinden, mit den Paillettenkissen sicher nicht. Sie schürften ihm bereits die Haut vom Wangenknochen. Doch er fühlte sich zu schwach, um zu protestieren.
So sah es aus: Draußen wütete ein Feuerteufel, Kurt Tietjen lief wahrscheinlich Amok und Oke Oltmanns war zur Bewegungslosigkeit verdammt. Nicht mal Fernsehen durfte er, stattdessen musste er sich einen Vortrag von Inse anhören: »Ich habe dir immer gesagt, dass du zu viel sitzt!« Ihre Stimme