vorher wollte ich etwas Wichtiges mit dir besprechen«, antwortete Eva, während sie den Becher hin und her rückte.
So angespannt kannte Norma ihre Vermieterin nicht. Sie erschrak. War jetzt der Tag gekommen? Würde sie ihr Zuhause verlieren? Seit geraumer Weile trieb sie die Sorge um, Eva könnte die Dachwohnung ihrem langjährigen Partner überlassen wollen. Bislang war er in Köln zu Hause, jedoch hatte Eva in letzter Zeit öfter erwähnt, wie gern sie tagtäglich mit ihm zusammenleben würde. Es wäre ein schmerzlicher Verlust! Norma liebte die urgemütlichen Zimmerchen mit den Schrägen und die Ausblicke auf den Rhein mit seinen vorbeituckernden Lastschiffen. Sie hatte ihre Freude an den krächzenden Schwärmen der wilden Alexandersittiche, die im nahen Schlosspark lebten. Zu den praktischen Annehmlichkeiten gehörte das Büro im Erdgeschoss. Zuvor hatte der Raum als Blumenladen gedient und eine Weile leer gestanden.
Sie bemühte sich, unbekümmert zu klingen, als sie sagte: »Verstehe. Seit Jahren verbringst du jedes Wochenende und die Ferien in Köln. Also habt ihr genug von der Wochenendbeziehung?«
»Du triffst den Nagel auf den Kopf«, bestätigte die Vermieterin.
Sie würde sich nicht querstellen, hatte Norma sich vorgenommen. »Wann soll ich die Wohnung räumen? Ach, auch das Büro?«
Mit einem dumpfen Plopp landete Evas Becher auf der Tischplatte. »Um Himmels willen! Bitte bleibe hier, solange du möchtest«, widersprach Eva entschieden. »Es verhält sich genau andersherum. Ich ziehe nach Köln.«
»Puhh«, machte Norma vor Erleichterung, um sich gleich über eine neue Misere klar zu werden. Bedrückt schaute sie zu Leopold hinüber. Ohne die geringste Vorstellung von den Plänen seines Frauchens hockte der Kater wie eine Sphinx auf dem Fensterbrett und bemühte sich, das heftig turtelnde Taubenpaar hinter der Scheibe mit Missachtung zu strafen. »Dann wird Poldis Revier auf dem Dach bald allein den Vögeln gehören.«
Eva strich sich eine Haarsträhne zurück, eine dieser dichten, roten Locken, dank deren die Lehrerin stets auf perfekte Art unfrisiert aussah. »Das ist der Grund, warum ich hier bin. Ich habe eine Bitte.«
»Raus mit der Sprache!«
»Könntest du dir vorstellen, Poldi zu übernehmen? Ich meine, wo er die meiste Zeit sowieso bei dir verbringt?«
»Keine Frage, das weißt du doch«, sagte Norma erleichtert. Den Kater zu verlieren, hätte nicht nur sie geschmerzt. Auch Timon hätte den Stubentiger vermisst. »Wird es dir nicht sehr schwerfallen, Poldi zurückzulassen?«
»Das wird nicht einfach für mich, leider geht es nicht anders. Er hat hier sein Zuhause. Außerdem leidet mein Freund unter einer schlimme Katzenhaarallergie. Das ist der Grund, warum er mich nie besucht. Bei dir weiß ich Poldi in den besten Händen.«
Eva stand auf, und auch Norma erhob sich. Ob Eva nicht ihre Schule vermissen würde, fragte Norma. Wie oft hatte Eva von ihrem Kollegium geschwärmt.
»Man muss manchmal auch etwas Neues wagen«, erklärte Eva entschlossen. »In Köln werde ich an einer Privatschule unterrichten. Darauf freue ich mich. Danke, Norma! Für den Kaffee, für alles.«
Sie verließen die Küche. Leopold blieb auf seinem Platz, blinzelte träge und rührte keine Pfote.
Im Flur wandte Eva sich um. »Eine Bitte noch. Meine Wohnung … Ich suche einen Mieter. Falls du jemanden weißt …?« Sie wollte das Angebot diskret handhaben, um nicht von Anfragen überrollt zu werden. Sympathischen Interessenten absagen zu müssen, fiele ihr schwer.
Norma versprach, sich umzuhören. In der Küche erklang ein Signalton. »Entschuldigung, mein Handy. Bis bald, Eva!«
Das Smartphone brummte auf dem Küchentisch. Eckhard Winterstein! Ob sie Zeit für ein Gespräch hätte. Wenn möglich zeitnah im Kloster Eberbach.
Norma hatte nichts Besseres vor. Eine halbe Stunde später steuerte sie ihren kleinen Toyota durch den Rheingau.
9
Kloster Eberbach
Donnerstag, der 16. September
Eckhard Winterstein wartete vor der Vinothek, ihrem verabredeten Treffpunkt, und winkte sie auffordernd näher heran.
»Sind Sie einverstanden, wenn wir in meinem Wohnmobil reden?«, fragte er höflich. »Eigentlich könnte ich jeden Tag hierherfahren. Ich müsste nur über den Rhein, ich lebe in Mainz. Aber ich will am Drehort bleiben, Tag und Nacht, um seine Atmosphäre in mich aufzunehmen. Eine allumfassende Inspiration, Sie verstehen doch?«
Norma folgte ihm mit dem Entschluss, das Treffen auf der Stelle abzubrechen, sollte der Regisseur seinem Ruf gerecht werden und sich ausfallend oder cholerisch benehmen. Der Weg führte sie um das ehemalige Hospital herum und am Kleinen Klosterhof entlang.
»Die Fraternei«, erklärte Winterstein und deutete wie ein Gästeführer auf das breite Gebäude, dem sie entgegenstrebten. »Darin befand sich der sogenannte Brüdersaal, in dem die Zisterzienser Bücher abgeschrieben haben und wo, in neuerer Zeit, ein berühmter Film gedreht wurde. Denken Sie an gestern: der tote Mönch im Holzbottich!«
Sie verstand, worauf er anspielte. Schummriges Licht, voluminöse Weinfässer und dazwischen ein Bottich mit Wasser, durch dessen Oberfläche der blasse, aufgedunsene Körper einer korpulenten Leiche schimmerte. »Die Szene mit dem vergifteten Mönch spielt also dort drin?«
»So ist es, der Zuber aus ›Der Name der Rose‹ stand im Cabinetkeller, wie man die Fraternei auch nennt.«
»Hätten Sie selbst gern bei dem Epos mitgewirkt?«, fragte sie neugierig.
Winterstein seufzte leicht theatralisch. »Welcher Filmschaffende träumt nicht davon? Ich war zu meinem Leidwesen nicht dabei. Kloster Eberbach habe ich letztes Jahr erstmals besucht, um für meinen neuen Film zu recherchieren. Kommen Sie!«
Hinter dem Cabinetkeller öffnete sich der Große Klosterhof. Anders als am vergangenen Abend lag der gepflasterte Platz verlassen da bis auf ein Grüppchen Männer und Frauen, allem Anschein nach Touristen, die mit interessierten Mienen umherspazierten. Ob die Besuchergruppen von dem Mord erfahren hatten, fragte sich Norma unwillkürlich. Die zwei halbrunden Durchgänge zur Klostergasse, in der der tote Winzer gelegen hatte, waren durch Gittertore versperrt. Dahinter lag der innere Bereich des Klosters, der nur mit einer Eintrittskarte besichtigt werden konnte. Der Regisseur schritt weit aus wie jemand, der es gewohnt war, seine Arbeit schnell und zielorientiert zu erledigen. Auch Norma hielt sich für gewöhnlich ungern mit Schlendern auf. Nun jedoch ging sie absichtlich langsam. Sie wollte Zeit gewinnen und den Regisseur in ein Gespräch verwickeln, um ihn besser einschätzen zu können, sobald er auf den speziellen Grund seiner Einladung zu sprechen kam. Bisher hatte er nur erwähnt, dass es um sein Filmprojekt ginge.
»Verzeihen Sie meine Offenheit«, begann sie. »Gehen Sie mit Ihrem Dokudrama nicht ein wenig attraktives Thema an? Bei dem Wort ›Irrenanstalt‹ habe ich sofort die schlimmsten Bilder im Kopf. Menschen in Lumpen, verzweifelte Gestalten in Ketten. Was reizt Sie daran?«
Er hatte sich ihrem Schneckentempo notgedrungen gefügt. »Eben genau das ist mein Anliegen. Diese beklemmenden Assoziationen, wer hat sie nicht? Ich will eine vergessene Zeit ins Licht rücken. Mein Dokudrama erzählt die Geschichte der Psychiatrie in authentischen Bildern. Keine Frage, im 19. Jahrhundert gab es menschenverachtende Übergriffe, andererseits hatte die sogenannte Obrigkeit durchaus den aufrichtigen Willen, psychisch Kranken und geistig Behinderten zu helfen. Entscheidende Fortschritte werden wir in Spielszenen darstellen. Im Kloster Eberbach geschah Bahnbrechendes, Frau Tann!«
Hier spricht jemand, der von seinem Stoff überzeugt ist, erkannte Norma und fragte, von seiner Begeisterung mitgerissen: »Sie meinen Entwicklungen, die Persönlichkeiten wie Direktor Lindpaintner zu verdanken sind? Die Hauptrolle, für die Roman Bonheur einspringen wird?«
»Unbedingt! Philipp Heinrich Lindpaintner war 23 Jahre alt, als er in Eberbach zum Direktor berufen wurde – kein Arzt oder Psychiater, wie man vermuten würde, sondern ein Jurist. Das war 1817 und das Kloster mittlerweile säkularisiert. Lindpaintner wollte mit Humanität