sich den Schubladen zu und entnahm ihnen alles, was nach wichtigen amtlichen Unterlagen aussah. Zuletzt fand er noch neben einem alten Gesangbuch und einem Rosenkranz aus Holz, die er unberührt ließ, ein in Seidenpapier eingeschlagenes langes Päckchen. Er zog es hervor, wunderte sich über die Flexibilität des Inhalts und wickelte es vorsichtig aus. Es enthielt Zöpfe – die Zöpfe seiner Mutter, die er eben noch auf den Fotos gesehen hatte. Warum verwahrte eine Frau ein Leben lang die Zöpfe ihrer Kindheit? Fabian Heller schüttelte verständnislos den Kopf und wickelte die blonde Haarpracht wieder ein. Dann griff er nach einer großen, stabilen Stofftasche, steckte das Seidenpapierpäckchen, die Papiere und die Fotoalben hinein und ging zurück ins Wohnzimmer, um auch die dort auf dem Tisch deponierten Unterlagen dazu zu stopfen.
Er blickte sich noch einmal um, fühlte die Enge in seinem Brustkorb und kämpfte wie schon seit Wochen immer wieder mit der Frage, was er mit dem Haus machen sollte. Einziehen würde er hier sicher nicht. Sein Bruder schon gar nicht, denn der lebte in Berlin. Also verkaufen? Sich endgültig davon trennen? Was war das nur, das ihm die Antworten so schwermachte? Was stieß ihn hier so ab, dass er den Aufenthalt in diesem Haus nicht ertrug? Und was fesselte ihn gleichzeitig so sehr, dass er den sauberen Schnitt nicht schaffte?
Heller beschloss, heute nichts mehr zu beschließen und überhaupt keine Entscheidung zu treffen, solange er sich in emotionaler Schieflage befand. Er würde sich mit etwas Abstand Gedanken darüber machen, wie es mit dem Haus weitergehen sollte.
Derart vorerst einer Entscheidung enthoben, verließ er das Mausoleum seiner Kindheit.
8
Lenz hatte seine Leute im Besprechungsraum versammelt und berichtete von den vorläufigen Ergebnissen der gerichtsmedizinischen Sektion. Je grausamer die Details wurden, desto mehr drückte die Stille unter den Kollegen auf den Raum.
»Das Opfer ist also über einen Zeitraum von etwa drei Tagen gefoltert worden«, fasste Lenz zusammen. »Die Folterwerkzeuge sind ungewöhnlich: eine mehrsträngige Lederpeitsche, ein Stock und ein Instrument, von dem wir nur wissen, dass es mit zehn Zentimeter breiten Fesselungsmanschetten versehen ist. Das lässt darauf schließen, dass der Mann an einem abgeschiedenen Ort gefangen gehalten wurde, an dem niemand die Schreie hören konnte. Wir können weiterhin davon ausgehen, dass das Mordopfer etwa neunzig Jahre alt war und in guten Verhältnissen gelebt hat. Darauf müssen wir die Suche eingrenzen.«
»Könnte sein, dass ich da schon etwas habe«, meldete sich Gisbert Henke zu Wort. Der Kriminalkommissar blätterte in einigen Papieren, die er vor sich liegen hatte, und tippte schließlich auf einen der Zettel. »Ich bin die aktuellen Vermisstenmeldungen durchgegangen und da gibt es tatsächlich eine, die zu unseren Kriterien passt. In der Seniorenresidenz Friedenstal in Büren ist seit drei Tagen ein vierundneunzigjähriger Mann namens Anton Kottmann abgängig.«
»Sehr gut, Kollege«, lobte Lenz. »Wissen wir Näheres über die Umstände des Verschwindens?«
»Nur dass der alte Herr nach dem Freigang …« Henke stutzte kurz und blickte seinen Nebenmann an. »Nennt man das im Altersheim auch Freigang? Na, egal … Jedenfalls hat der alte Mann zwei Stunden am Nachmittag draußen im Park verbracht und war danach verschwunden.«
»Dann sollte umgehend jemand dorthin fahren und der Sache nachgehen«, sagte Lenz.
»Die Kollegin Gladow und ich werden gleich im Anschluss nach Büren fahren«, brummte Schröder, der bislang schweigend in der Runde gesessen hatte und regelrecht zu schmollen schien.
»Leider ist ja nun von dem Gesicht des Toten nichts mehr zu erkennen«, wandte Gina Gladow ein. »Wir müssen sehen, dass wir in der Residenz DNA-Material von Anton Kottmann bekommen, um einen Abgleich mit dem Opfer machen zu können. Aber das dürfte ja kein Problem sein.«
»Richtig«, bestätigte Lenz und wandte sich wieder Kriminalkommissar Henke zu. »Sonst gibt es keine Meldung, die auf unseren Toten zutreffen könnte?«
»Nein.« Henke blätterte noch einmal vor und zurück, als müsse er sich selbst davon überzeugen, und schüttelte dann den Kopf. »Nichts.«
»Gibt es schon erste Erkenntnisse bezüglich vergleichbarer Fälle in den letzten Jahren?« Lenz blickte die anderen Beamten direkt an.
»Dafür müssen ja nun erst mal die Akten hier sein«, meckerte Oberkommissar Steinkämper zurück.
»Entschuldigung!« Lenz hob beide Handflächen in Richtung des Kollegen. »In Zeiten der Digitalisierung hätte es ja sein können.«
»Wir sind hier in der Provinz«, wandte Oberkommissar Jakobsmeier ein, dem die harsche Reaktion seines Kollegen sichtlich unangenehm war.
»Nun gut, wir sollten trotzdem keine Zeit verlieren.« Lenz erhob sich von seinem Stuhl. »Solange wir keinen weiteren Treffer haben, werden Sie, Kollege Henke, alles über diesen Kottmann in Erfahrung bringen, was Sie finden können. Außerdem brauche ich zur ersten Orientierung möglichst schnell eine kurze Zusammenfassung über die Umgebung des Tatortes. Sprechen Sie sich bitte untereinander ab, wer welche Aufgabe übernehmen will. Also, Kollegen, an die Arbeit.«
Während die drei Männer den Raum verließen, hielt Lenz die junge Kommissarin und Hauptkommissar Schröder zurück. »Wir beide, Frau Gladow, werden nach Büren in die Senioren-Residenz fahren. Sie, Herr Schröder, bleiben hier und koordinieren die Arbeit.«
Ohne sich weiter um den immer noch schmollenden Hauptkommissar zu kümmern, nickte er seiner jungen Kollegin zu, die auch gleich aufsprang und den Raum verließ. Lenz folgte ihr am Aufzug vorbei zur Treppe, deren Stufen sie in einem Tempo nahm, dass er Mühe hatte, ihr zu folgen.
»Moment, Kollegin!«, rief Lenz, als sie im Erdgeschoss an der Tür zum Verkehrskommissariat vorbeikamen. Er gab ihr ein Zeichen, betrat die Abteilung für die Verkehrsanzeigenbearbeitung und suchte die Tür des Leiters, neben der auf einem Wandschild KHK Steinbrecher stand.
Das kurze Klopfen an die Tür und das Eintreten waren eine Bewegung. Gina Gladow folgte ihm dicht auf den Fersen. Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann mittleren Alters mit Stoppelschnitt und harten Gesichtszügen. Steinbrecher passt, dachte Lenz und ging direkt auf ihn zu. »Kollege Steinbrecher, nehme ich an.« Er hielt ihm die Hand entgegen. »Ich bin Stefan Lenz, der neue Leiter des KK1.«
»Angenehm«, entgegnete Steinbrecher förmlich und ergriff die Hand, ohne sich zu erheben. »Was kann ich für Sie tun? Oder machen Sie nur die Runde, um sich vorzustellen?«
»Nee nee!« Lenz winkte lachend ab. »Ich bin im Grunde noch gar nicht hier. Erst ab Montag. Aber ich habe ein konkretes Anliegen – unter Kollegen sozusagen.« Er zwinkerte Steinbrecher verschwörerisch zu und senkte die Lautstärke. »Heute Morgen bin ich auf der B1 in Höhe der Autobahnauffahrten geblitzt worden. Ist ja reichlich unübersichtlich, die Stelle; und dann war da noch so ein aufdringlicher Porsche an meinem Hintern. Kurz und gut: Ich wollte nur Bescheid sagen, wen es da erwischt hat. Damit ihr das Ticket nicht irrtümlich noch rausschickt.« Er lachte einmal kurz auf.
Steinbrecher lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fragte mit zusammengezogenen Brauen verständnislos: »Wo, bitte schön, wäre da der Irrtum, wenn wir es an Sie versenden würden? Oder möchten Sie, dass wir es persönlich zu Ihnen hochbringen, um der Behörde das Porto zu sparen?«
»Na, ich bitte dich, Kollege. Ich bin einer von euch und war außerdem auf dem Weg hierher.«
»Ich verstehe immer noch nicht. Mussten Sie da zu schnell fahren? Waren Sie im Einsatz? War Gefahr in Verzug oder so etwas?«
»Abgesehen davon, dass Kriminaldirektor Heitkamp mich erwartete und ich spät dran war, nicht – wenn du verstehst, was ich meine.« Lenz kniff Steinbrecher erneut ein Auge zu und lächelte verschmitzt, bewirkte dadurch aber keinerlei Veränderung der gefühlskalten Beamtenmimik seines Gegenübers. »Soll dein Schaden auch nicht sein«, fügte er deshalb vorsichtshalber hinzu. »Was trinkst du? Red Label?«
»Ich bin mir zwar nicht so sicher, ob ich das jetzt verstehen muss, aber eines ist für mich klar: Der Gebührenbescheid geht raus. Ich sehe überhaupt keinen Grund dafür, dass ich in Ihrem Fall eine