Elisabeth Swoboda

Sophienlust Staffel 15 – Familienroman


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verband ihn mit ihr mehr als mit den anderen Kindern.

      »Dein Vati hat mir erzählt, dass deine Mutti Schauspielerin ist«, sagte er. »Eine sehr berühmte sogar.«

      »Ja«, sagte Ulrike nur.

      »Da musst du doch mächtig stolz auf sie sein.«

      »Ich bin nicht stolz auf sie.« Ulrikes Miene war plötzlich sehr abweisend.

      »Habe ich irgendwas Falsches gesagt?«, fragte Jens erschrocken.

      »Nein. Ich mag bloß nicht gern an meine Mutti denken.«

      »Das verstehe ich nicht.« Die beiden waren vor dem Spielplatz stehen geblieben. »Ich könnte dauernd an meine Mutti denken. Sie ist so lieb und schön …«

      »Schön ist meine Mutti auch, aber nicht lieb.«

      »Nicht?«, fragte Jens erstaunt.

      »Nein, überhaupt nicht. Deshalb bin ich auch viel lieber in Sophienlust.«

      »Magst du gar nicht mehr nach Hause?«, fragte Jens entgeistert.

      Ulrike überlegte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Hier gefällt es mir besser.«

      »Und du hast überhaupt kein Heimweh nach deinen Eltern?«

      »Doch. Nach Vati schon.« Ulrike setzte sich auf eine der Schaukeln.

      »Soll ich dich anschieben?«, fragte Jens.

      »Ja, mach nur«, bat sie. »Aber nicht so fest. Ich trau mich nicht, so hoch zu schaukeln. Willst du es auch einmal versuchen?«

      Ulrike machte die Schaukel für Jens frei und schaute ihm bewundernd zu, als er hoch hinauf in die Luft flog.

      »Bist du aber mutig«, staunte sie.

      »Bin ich gar nicht.« Jens stoppte mit den Füßen, bis er stand. »In Gmund haben sie mich immer Feigling genannt.« Es fiel ihm nicht leicht, das auszusprechen. Doch er wollte Ulrike gegenüber ehrlich sein, weil sie Onkel Daniels Tochter war und weil sie so nett zu ihm war. Aber nett waren die anderen Kinder ja eigentlich auch alle. Niemand hatte ihn ausgelacht oder versucht, ihn zu verprügeln wie in Gmund. Aber jetzt bin ich ja auch besser angezogen, dachte er.

      »Warum haben sie dich einen Feigling genannt?«, fragte Ulrike treuherzig.

      »Weil …, weil ich mich niemals geprügelt habe. Ich meine, ich habe mich nicht gewehrt, wenn sie mich ausgelacht haben.«

      »Warum haben sie dich ausgelacht?«

      »Weil ich nie Schuhe anhatte.« Jens senkte den Blick. »Und weil ich immer so zerlumpt angezogen war. Und weil mein Pflegevater immer betrunken war.«

      »Oh«, hauchte Ulrike mitfühlend. Wieder legte sie ihre kleine Hand auf Jens’ Arm. Sie war ein Kind, das besonders viel Zärtlichkeit abgab. Dabei hatte sie von der Mutter nie echte Liebe und Zärtlichkeit erfahren.

      Das kleine Mädchen konnte sich zwar nicht vorstellen, wie das war, wenn man einen Vater hatte, der immer betrunken war, aber es war wahrscheinlich sehr schlimm. »Mein Vati ist nie betrunken«, sagte Ulrike. »Er ist der liebste Vati von der ganzen Welt.«

      »Das glaube ich dir.«

      »Möchtest du auch so einen Vati haben wie ich?«, fragte sie weiter. Da sie von der Mutter vernachlässigt worden war, konzentrierte sich nun ihr ganzer Stolz auf den geliebten Vater.

      »Ja«, sagte Jens sehnsüchtig.

      »Aber du musst doch eigentlich auch einen Vati haben«, plapperte Ulrike unbekümmert weiter.

      »Schon. Aber ich kenne ihn nicht. Ich bin schon froh, dass ich meine Mutti jetzt kenne.«

      »Ist sie lieb?«

      »Und wie«, antwortete der Junge begeistert. »Wenn sie wieder gesund ist, nehme ich dich einmal mit zu ihr.«

      »Wirklich?« Ulrike schaute strahlend zu ihm auf. Jens gefiel ihr, weil er nicht so ruppig war wie die anderen älteren Jungen. Und doch war er größer und stärker und wusste viel mehr.

      Beim Abendessen setzte sich Ulrike neben Jens. »Du darfst essen, so viel du willst«, klärte sie ihn auf.

      »Ja, und du darfst jederzeit nachfassen«, rief Vicky über den Tisch.

      Jens aß seinen Teller mit großem Appetit leer. So gutes Essen hatte es bei den Nissens nie gegeben. »Habt ihr immer so gutes Essen?«, fragte er Ulrike leise.

      Sie nickte. »Meistens ist es noch besser. Das hier mag ich nämlich gar nicht so gern.« Sie schob ihren Teller zurück, auf dem noch ein ganzes Frankfurter Würstchen lag. Jens hätte gern gefragt, ob er es haben dürfe. Doch er traute sich nicht.

      Da angelte Vicky auch schon nach Ulrikes Teller. »Wenn du deine Wurst nicht willst, esse ich sie.«

      »Halt!« Ulrike hielt ihren Teller fest und schaute Jens an. »Willst du sie vielleicht haben?«

      »Schon, aber …«

      »Dann kriegst du sie.« Entschlossen griff Ulrike mit ihren kurzen dicken Fingern nach der Wurst und legte sie auf Jens’ Teller.

      Der schaute besorgt zu Vicky hinüber. War sie ihm auch nicht böse?

      Doch Vicky lachte nur. »Habe ich mir sowieso gedacht, dass du sie

      kriegst, Jens.«

      »Wenn du willst, gebe ich sie dir«, sagte Jens schnell.

      Doch Vicky winkte ab. »Nein, nein, iss nur. Ich bekomme eine von Heidi. Und außerdem können wir uns auch in der Küche noch ein zweites Paar Würstchen holen, wenn wir wollen. Tante Ma ist da nicht kleinlich.«

      »Tante Ma?«

      »So sagen wir zu unserer Heimleiterin«, klärte Angelika ihn auf.

      Jens war sehr müde, als er an diesem Abend in sein Bett stieg. Trotzdem blieb er noch einen Moment andächtig davor stehen, bevor er sich hineinlegte. Ein eigenes Zimmer, dachte er, mit einem Schrank ganz für mich allein. Und mit einem kleinen Schreibtisch sogar. Vor Freude hätte er am liebsten geheult. Er kam sich vor wie im Himmel. Andächtig strichen seine Finger über das Holz der Schreibtischplatte.

      Und wie ruhig es hier ist, dachte er, als er schon im Bett lag. In Gmund hatte entweder der Vater gegrölt, oder die Stiefeltern hatten sich gestritten. Da war es nie ruhig gewesen.

      Über diesen Gedanken schlief Jens ein. Er träumte, er sei wieder bei dem alten Nissen und werde von ihm verprügelt. Schreiend fuhr er aus dem Schlaf hoch. Erst nach einigen Sekunden registrierte er, dass er sich gar nicht mehr in dem muffigen engen Schlafzimmer befand, und dass seine Stiefgeschwister auch nicht da waren. Da erst fiel ihm ein, dass er in Sophienlust war. Er lauschte in die Dunkelheit hinein. Hatte ihn jemand gehört? Offensichtlich nicht. Da legte er sich wieder zurück und schlief mit einem glücklichen Lächeln ein. Von da an träumte er von Anjuta. Er nannte sie auch im Traum Mutti und bat sie immer wieder, doch endlich gesund zu werden.

      *

      Daniel war in den folgenden Tagen sehr beschäftigt. Die neue Produktion in seiner Firma hatte eingeschlagen. Jetzt flatterten ihm jeden Tag neue Aufträge ins Haus. Es ging wieder aufwärts. Daniel verbrachte seine Feierabende ausschließlich im Büro. Aber das machte ihm nichts aus. Ihm graute vor der großen leeren Villa in Grünwald. Denn Carsta war noch immer in Paris.

      Daniel sehnte sie allerdings auch nicht herbei. Wenn er an ihren Auftritt in Davos dachte, stieg ihm die Galle hoch.

      Auch die Sache mit Jens musste in Ordnung gebracht werden. Daniel wollte erreichen, dass Harald und Sonja Fabricius vor Gericht ein Geständnis ablegten, dass sie zugaben, ihrer Tochter das neugeborene Kind weggenommen und der Familie Nissen übergeben zu haben.

      Daniel hatte einen Rechtsanwalt mit der Sache beauftragt. Einen der besten Männer, den es dafür in Deutschland gab. Ihm saß er an diesem Nachmittag gegenüber.

      »Es wird nicht einfach sein, das