starken Einfluss auf Papa aus.«
Die Schatten im Zimmer wurden länger und dunkler. Die Sonne war hinter den Bergen untergetaucht. Lange saß Daniel schweigend an Anjutas Bett. Erst die eintretende Schwester schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Sie knipste das Licht an und ließ die Jalousien herunter. Dann servierte sie Anjuta das Abendessen.
Anjuta bat, dass Daniel noch ein wenig bleiben dürfe. »Ich habe so vieles mit ihm zu besprechen, Schwester.«
»Aber selbstverständlich«, sagte die junge Schwester nickend. In diesem teuren Sanatorium war man gewohnt, sich nach den Wünschen der Patienten zu richten.
»Aber Sie müssen mir versprechen, wenigstens eine Kleinigkeit zu essen«, verlangte die Schwester mit einem schelmischen Lächeln.
Anjuta versuchte es, doch sie musste mehr als die Hälfte stehen lassen.
»Sonja und Papa hatten für mich einen Mann ausgesucht«, erzählte sie nach dem Essen. »Einen sehr angesehenen und sehr vermögenden Ehemann.«
»Hast du ihn geheiratet?«
»Nein. Ich bin nach der Geburt des Kindes nie mehr richtig gesund geworden. Und eine kranke Frau wollte dieser Ehekandidat nicht. Außerdem wollte ich ihn auch nicht«, fügte sie lebhaft hinzu. Für einen Augenblick leuchteten ihre Augen auf. Doch der Glanz erlosch schnell wieder. »Ich wünschte, ich hätte die Courage gehabt, mich gegen meine Eltern durchzusetzen«, sagte sie leise. »Aber das konnte ich nicht. Und so trug ich die Sehnsucht nach meinem Kind jahrelang mit mir herum.« Sie schwieg erschöpft.
Wie muss sie gelitten haben, dachte Daniel. Und ich ahnte von alldem nichts. Er kam sich plötzlich sehr gemein vor. Fast wie ein Schuft.
Anjuta schien seine Gedanken zu ahnen. »Mach dir keine Vorwürfe«, sagte sie leise. »Du wusstest ja nichts von dem Kind.«
»Nein. Aber jetzt weiß ich es. Sag mir, was ich tun soll, Anjuta. Wie kann ich dir helfen?«
Sie schaute ihn an. Ihre großen dunklen Augen flehten, als sie sagte: »Finde mein Kind, Daniel. Unser Kind. Ich möchte es noch einmal sehen. Ich weiß, dass ich nicht mehr lange zu leben habe.«
»Anjuta«, sagte Daniel erschrocken.
Doch sie schüttelte nur den Kopf. »Ich weiß es schon lange. Der Gedanke ängstigt mich auch nicht mehr. Aber das Kind lässt mir keine Ruhe.«
»Ich werde es finden«, versprach Daniel, obwohl er in diesem Moment selbst noch nicht wusste, wie. Aber er war fest entschlossen, Anjuta zu helfen, das Kind zu finden. Schließlich war es ja auch sein Kind. »Hast du irgendeinen Anhaltspunkt, wohin sie es gebracht haben könnten?«
Anjuta nickte und richtete sich in den Kissen auf. »Ich habe einen Verdacht. In meinem Elternhaus gab es ein Hausmädchen. Stine Färber hieß sie. Diese Stine Färber schickten die Eltern mit mir nach Rottach-Egern. Sie war bei mir, bis ich das Kind auf die Welt brachte. Zwei Tage danach war sie verschwunden. Und mit ihr mein Baby.«
»Und du glaubst, dass dieses Mädchen das Kind mitgenommen hat?«
Anjuta nickte. »Ich bin dessen fast sicher. Denn Stine tat für Geld alles. Schon in Hamburg.«
Anjuta schwieg, und Daniel dachte ebenfalls nach. »Man müsste herausfinden, wo diese Stine Färber jetzt lebt.«
»Sie ist in Oberbayern geboren«, sagte Anjuta. »Ihre Verwandten leben heute noch dort. In einem kleinen Dorf. Es heißt … Ich habe mir den
Namen aufgeschrieben.« Sie griff in
die Schublade des Nachtkästchens. »Gmund am Tegernsee«, las sie aus einem Notizbuch ab. »Das ist gar nicht weit von Rottach-Egern entfernt.«
Daniel nickte. »Ich kenne es. Von München aus ist es nur ein Katzensprung dorthin. Ich werde hinfahren«, versprach er. »Wenn diese Stine Färber noch in Bayern lebt, dürfte es nicht schwer sein, sie zu finden.«
Anjuta tastete nach seiner Hand und drückte sie. »Ich danke dir, Daniel. Wie lange bleibst du in Davos?«
»Leider muss ich schon morgen wieder nach München zurückfahren«, sagte er bedauernd. »Ich kann mein Werk nicht länger allein lassen.« Von den Schwierigkeiten, in denen er steckte, erzählte er ihr nichts. »Aber wir bleiben in Verbindung. Und sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, melde ich mich wieder.«
Sie schaute ihn mit brennenden Augen an. »Lass mich nicht zu lange warten, Daniel.«
In diesem Moment begriff Daniel, dass sie wirklich schwer krank war. Dass sie vielleicht tatsächlich nicht mehr lange zu leben hatte. »Ich werde mich beeilen«, sagte er rau und drückte ihre kalten Hände an seine Lippen. Der Schmerz presste ihm die Brust zusammen, sodass er kaum atmen konnte.
»Ich komme morgen früh, bevor ich fahre, noch einmal vorbei.« Er stand auf.
Sie schaute ihm nach, als er zur Tür ging. Das hellblonde Haar klebte feucht an ihren Schläfen. Die Unterhaltung mit Daniel hatte sie aufgeregt und angestrengt. Aber es hatte sein müssen. Ich muss wissen, was aus meinem Kind geworden ist, dachte sie. Vorher kann ich nicht sterben. Nur einmal möchte ich den Jungen noch sehen und wissen, dass es ihm gut geht. Mehr verlange ich ja gar nicht. Mehr kann ich nicht verlangen. Aber es war richtig, dass ich Daniel informiert habe. Schließlich geht es um sein Kind. Er soll wissen, dass er ein Kind von mir hat. Ich hätte es ihm schon viel früher sagen sollen – und mich nicht von Sonja und Vater beeinflussen lassen dürfen.
Der nächste Hustenanfall kündigte sich an. Anjuta presste schnell das Taschentuch vor den Mund.
*
Daniel übernachtete in einem kleinen Hotel. Der Fremdenverkehrsverein hatte ihm das Zimmer vermittelt. Er hatte beschlossen, schon am darauffolgenden Wochenende an den Tergernsee zu fahren und mit seinen Nachforschungen zu beginnen.
In diesem Entschluss wurde er noch bestärkt, als er sich am nächsten Morgen von Anjuta verabschiedete. Ihre Verfassung war schlimmer als am Vortag. Die Oberschwester erlaubte ihm nur ein paar Minuten für seinen Besuch.
Mit gemischten Gefühlen und in tiefer Besorgnis fuhr Daniel nach München zurück.
»Die gnädige Frau hat gestern aus Paris angerufen«, teilte die Haushälterin ihm mit. »Ich soll Ihnen ausrichten, dass sie vorerst nicht nach Hause kommen kann.«
»Vielen Dank.« Daniel schaute die eingegangene Post durch. Sie bestand zum größten Teil aus Rechnungen.
Obwohl es schon Abend war, fuhr er noch einmal zu seinem Büro. Er arbeitete bis kurz vor zwölf. Auch an den folgenden zwei Abenden.
Am Samstagmorgen sagte er seiner Haushälterin, dass er den ganzen Tag auswärts sein und erst am Abend zurückkommen würde.
»Wenn Sie heute nach Sophienlust fahren …«
»Ich fahre nicht nach Sophienlust«, unterbrach er sie. Dabei hatte er ein schlechtes Gewissen. Denn er hatte Ulrike versprochen, sie so bald wie möglich zu besuchen. Und dann hielt er schon am ersten Wochenende sein Versprechen nicht.
Misstrauisch schaute die Haushälterin ihm nach, als er zu seinem Wagen ging.
Innerhalb einer halben Stunde erreichte er mit seinem schnellen Wagen den Tegernsee. Er verbrachte den Vormittag in Gmund und den Nachmittag in Rottach-Egern. In Gmund konnte man sich an die Familie Färber erinnern. »Die haben lange hier gewohnt«, sagte eine alte Bäuerin. »Aber vor zwei Jahren sind sie weggezogen.« Wohin, das wusste sie nicht. Und die Gemeindeverwaltung war geschlossen. Unverrichteter Dinge musste Daniel gegen Abend nach München zurückfahren.
Er hatte mit mehreren Leuten gesprochen, die die Färbers gekannt hatten. Aber von einem Kind hatte niemand etwas gewusst. »In der Färberfamilie gab’s kein kleines Kind«, hatten alle einstimmig behauptet.
Daniel musste einsehen, dass er eine falsche Spur verfolgt hatte. Aber wenn das Kind nicht bei diesem Hausmädchen oder deren Familie war, wo dann?
Daniel war sehr niedergeschlagen an diesem Samstagabend.