An der Hintertür des Stadthauses gab es kein Licht. Im Schutze der Dunkelheit schlich Cole an der Mauer entlang und zog seinen Dietrich – einen gebogenen Nagel – aus der Hosentasche. Kaum war er bei der Tür angekommen, hatte er das Schloss auch schon geknackt. Vorsichtig spähte er in die Küche und atmete auf, weil kein Knecht am Kamin schlief. In diesem Haus hatte der wohl eine eigene Kammer.
Das Feuer war fast ganz heruntergebrannt, doch durch den schwachen Schein, den die Glut verbreitete, fand er sich gut zurecht. Es duftete nach leckerem Gebäck, das abgedeckt unter einem Tuch auf dem Tisch stand. Cole konnte nicht widerstehen, da ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Er hob einen Stoffzipfel an und entdeckte helle, runde Kekse. Cole schnappte sich einen und schob ihn sich in einem Stück in den Mund. Herzhaft kaute er, woraufhin sich noch mehr Speichel bildete. Verdammt, schmeckte der köstlich! Buttrig und zuckersüß und auch ein bisschen nach Zimt. Zuletzt hatte er so etwas Gutes gegessen, als seine Mutter noch gelebt hatte, doch das schien Ewigkeiten her zu sein. Sofort nahm er sich noch einen Keks, den er diesmal etwas langsamer kaute. Solche Leckereien bekam der Herr Lord bestimmt jeden Tag und wusste es gewiss nicht einmal zu schätzen.
Ein wenig zog es in Coles Magen, wenn er an die Vergangenheit dachte und alles, was er verloren hatte. Wenn der Plan seiner Mutter aufgegangen wäre – wo würden sie heute wohnen? Sicher ginge es ihnen besser als gerade. Er vermisste ein gemütliches, sauberes Zuhause. »Gemütlich« war es bei ihnen allerdings selten zugegangen, seinem Vater sei Dank. Aber Cole musste nach vorne sehen und wollte hart daran arbeiten, für Annie und sich ein akzeptables Leben zu schaffen. Vielleicht würde er eines Tages in einem Haus wie diesem arbeiten dürfen. Ja, das wäre nicht übel. Zumindest fror er sich hier im Winter nicht die Finger und Zehen halb ab.
Schnell huschte er durch die Küche und drückte die Tür zum Flur auf. Dort herrschte völlige Dunkelheit. Cole brauchte für sein Vorhaben jedoch Licht. Also nahm er die Kerze, die er auf dem Küchentisch entdeckte, entzündete sie an der Glut im Kamin und schlich weiter. Er musste absolut leise sein, denn hier unten befanden sich bestimmt die Räume des Butlers. Diese besonderen Bediensteten schienen allgemein einen leichten Schlaf zu haben, um stets für ihre Herren zur Stelle sein zu können.
Durch seine Arbeit für die Agentur wusste Cole, wie die Dienerschaft in einem adligen Haushalt organisiert war. An der Spitze stand der Butler, auf den immer Verlass sein musste. Außerdem war er verpflichtet, über alles, was in der Familie passierte, Stillschweigen zu bewahren.
Der nächste wichtige männliche Angestellte war der Kammerdiener, der sich um viele persönliche Belange des Hausherren kümmerte; das Gegenstück war die Lady’s Maid, die der Frau des Hauses zur Seite stand. Beide Bediensteten mussten für ihre Vorgesetzten ständig verfügbar sein.
Cole hatte auf der Feier gehört, Rochford würde keinen Valet beschäftigen. Der Lord hatte also niemanden, der ihm beim Ankleiden half, private Besorgungen für ihn erledigte oder ihn außerhalb der Essenszeiten bediente? Das konnte sich Cole kaum vorstellen!
Wobei … wenn ein Herr zu einem Diener solch ein intimes Verhältnis pflegte, könnte schnell auffallen, wie Rochford wirklich tickte.
Dass er Männer begehrte.
So war wie er.
Coles Herz schlug kräftiger. Der attraktive Marquess faszinierte ihn. Er schien voller Geheimnisse und Überraschungen zu stecken.
Wie von selbst führten Coles Beine ihn die ausladenden Treppen in der Eingangshalle nach oben, und er öffnete eine Tür nach der anderen, bis er Rochfords Schlafzimmer gefunden hatte. Es enttäuschte ihn ein wenig, das riesige Bett leer vorzufinden. Doch nun konnte er sich wenigstens in Ruhe umsehen. Falls es hier Wertsachen zu holen gab – und davon ging Cole aus – würde er sie bestimmt in den ganz privaten Räumen des Mannes finden.
Cole holte den Beutel unter seinem Hemd hervor, in dem er sein Diebesgut verstauen wollte, und stellte die Kerze auf dem Waschtisch ab. Daneben entdeckte er ein Parfümfläschchen. Er roch daran, und sein Herz schlug wild, weil es genau wie Rochford duftete. Schnell steckte er die kleine Flasche ein.
Danach zog er eine Schublade nach der anderen auf, spähte hinein und schloss sie wieder. Er fand einen Stapel Briefe in einem kleinen Sekretär und eine Schmuckschatulle. Als er diese öffnete, funkelten ihm silberne Ohrringe und eine Kette entgegen, in der zahlreiche blaue Steine eingearbeitet waren, womöglich Aquamarine. Wahrscheinlich stammte der Schmuck von Rochfords Mutter. Cole hatte gehört, dass die alte Lady vor ein paar Jahren nach einem Fieber verstorben war. Sie hatte ebenfalls in diesem Haus gelebt.
Cole überlegte, die Schatulle in seinen Beutel zu stecken, brachte es aber nicht übers Herz. Vielleicht war der Schmuck für den Lord ein bedeutendes Andenken an seine Mum. Ob die beiden ein gutes Verhältnis gehabt hatten?
Er beschloss, die Schatulle zurückzulegen und das Ankleidezimmer nach Manschettenknöpfen, Ringen oder Krawattennadeln durchzusehen. Bestimmt hatte der Lord eine ganze Sammlung davon und würde womöglich nicht einmal bemerken, wenn ein paar fehlten. Beim Rausgehen würde sich Cole nach wertvollen Vasen und anderen Accessoires umsehen. Das Silberbesteck war gewiss weggeschlossen, danach brauchte er gar nicht erst zu suchen.
Er nahm die Kerze sowie seinen Beutel, um die zweite Tür im Raum zu öffnen. Sie führte in ein kleineres Zimmer, in dem viele Kommoden und ein schmales Bett standen. Dort schlief normalerweise der Kammerdiener. Jetzt lagen ein paar Hemden darauf.
Sanft ließ Cole die Finger über den edlen Stoff gleiten und stellte sich vor, wie der Lord darin aussehen würde … bevor Cole ihn auszog. Er konnte den Mann einfach nicht vergessen. Dessen Küsse verfolgten ihn sogar bis in den Schlaf. Verdammt!
Er sollte sich beeilen und endlich von hier verschwinden. Bloß wollte ihm sein Körper nicht gehorchen. Insgeheim hoffte er, noch einmal von Rochford übermannt zu werden. Doch diesmal würde Cole nicht weglaufen …
Kapitel 5 – Stürmisches Wiedersehen
Miles lief bereits seit einer Stunde ziellos durch die Straßen, weil er, anstatt wie geplant nach den Body Snatchern zu suchen, Cole nicht aus dem Kopf bekam. Ob der junge Mann gerade neben seinem Mädchen im Bett lag? Oder stellte er wieder irgendeinen Unfug an?
Miles zog es nach Soho, doch er würde seinem Sehnen nicht nachgeben und Cole garantiert nicht hinterher spionieren. Ihn wiederzusehen, würde alles nur schlimmer machen.
Vielleicht sollte er für ein paar Tage aufs Land reisen, um nicht ständig in Versuchung zu geraten, nach dem Kerl zu sehen. Nur gab es einen triftigen Grund, warum Miles das Stadtleben bevorzugte. Ganz allein auf seinem riesigen Landsitz wurde ihm seine Einsamkeit jedes Mal ein bisschen bewusster.
Verdammt, er vermisste das Boxtraining mit Hastings! Sofort wenn Miles zu Hause ankam, würde er ihm einen Brief schreiben, damit sie sich so bald wie möglich in ihrem bevorzugten Herrenclub trafen. Miles würde diesmal keine Ausrede seines Freundes gelten lassen. Er drehte sonst noch durch!
Die männlichen Huren waren für ihn keine Option, um sich eine Ersatzbefriedigung zu holen. Zudem würden sie seine Einsamkeit garantiert nicht schmälern, und die Gefahr, erwischt und aufgehängt zu werden, war einfach zu groß. In seinen ruhelosen Nächten würde er deshalb weiterhin brav den dunklen Rächer spielen, bevor er noch etwas Dummes machte. Doch er sehnte sich nach körperlicher Nähe, jeden Tag ein wenig mehr.
Vor ein paar Wochen hatte Miles ein paar Adlige beim Kartenspiel am Nachbartisch belauscht. Sie echauffierten sich über einen streng geheimen Club, in dem sich angeblich auch Männer mit Männern vergnügen sollten und der sich irgendwo in London befand. Die Aufnahmekriterien waren anspruchsvoll, damit niemand »Unbefugtes« Zutritt erhielt. Bloß hatten ihm weitere Nachforschungen verraten, dass dort sehr wahrscheinlich junge Frauen und Männer, noch halbe Kinder, gegen ihren Willen dargeboten wurden – vermutlich wurden sie auch von den Body Snatchern herangeschafft. Das Gerücht hatte er von einer Hafendirne, die er hin und wieder besuchte. Er bezahlte sie großzügig, aber nicht für ihre üblichen Dienste, sondern dafür, diskret ihre Augen und Ohren offen zu halten, und wusste ihre Tipps mittlerweile sehr