seine Sorgen schienen gerade ein wenig zu verblassen, weil Cole den ganzen Raum in seinem Kopf beanspruchte. Jetzt hatte Miles wenigstens einen Namen zu dem jungen, aber männlichen Gesicht mit der zarten Narbe auf der sinnlichen Unterlippe. Miles schätzte ihn auf zwanzig Jahre, also längst alt genug, um eine Familie zu gründen. Ob er verheiratet war? Cole hatte zumindest ein bisschen nach Frau gerochen, was Miles irgendwie ärgerte. Doch der Rosenduft passte zu ihm.
Vielleicht ließ er sich aber auch von einer vermögenden Witwe aushalten, die sich zum Vergnügen einen Jungspund ins Bett holte und ihn gut dafür entlohnte? Doch würde er dann hier arbeiten?
Es sollte Miles wirklich egal sein, mit wem Cole das Bett teilte. Schließlich durfte er selbst nicht einmal daran denken, den Streuner in sein Heim zu holen …
»Ich weiß, dass du ebenfalls Männer begehrst«, hatte Cole zu ihm gesagt. Ebenfalls … Dieses Wort ging ihm nicht aus dem Kopf. Der leichtsinnige Grünschnabel hatte seine krankhafte Neigung regelrecht zugegeben! Seine Direktheit hatte Miles einerseits schockiert, andererseits bekam er den Kleinen nun überhaupt nicht mehr aus seinen Gedanken.
Was hatte sich Cole bloß dabei gedacht, ihm solch ein offensichtliches Angebot zu machen? Fast hätte Miles ihn an sich gerissen, gierig geküsst und mit zu sich nach Hause genommen!
Er sprang von der Steinbank auf, um ruhelos zwischen den Beeten umherzuwandern. Zum Glück besaß Hastings hinter seiner prunkvollen Stadtvilla einen ausladenden und kunstvoll gestalteten Garten mit Rosenbüschen und Hecken, hinter denen sich Miles verbergen und unauffällig in die Fenster zum großen Salon spähen konnte. Zwar würde ihn von drinnen bestimmt keiner in der Dunkelheit erkennen, doch er fühlte sich einfach sicherer, wenn er völlig mit der Nacht verschmolz.
Auf dem Weg zum Brunnen blieb er stehen und reckte den Hals. Es dauerte eine kleine Unendlichkeit, bis er Cole durch die Scheibe hindurch in dem überfüllten Raum entdeckte. Er stand an der Wand und balancierte ein Tablett mit Gläsern in der Hand. Leider huschten immer wieder Leute an ihm vorbei oder blieben in Miles’ Blickfeld stehen. Ihm entging jedoch nicht, dass sich Cole ständig unauffällig umschaute. Suchte der Kerl nach ihm? Oder hielt er nach potentiellem Diebesgut Ausschau?
Sein Magen zog sich unangenehm zusammen. Hoffentlich behielt der Kerl seine Finger bei sich. Miles würde es sich nie verzeihen, wenn Cole seinen besten Freund Hastings bestahl, bloß weil er selbst einen Moment der Schwäche gezeigt hatte. Aber er hätte es nicht übers Herz gebracht, den jungen Mann auf die Straße zu setzen. Dort draußen kämpften unzählige Menschen täglich hart ums Überleben, viele erreichten nicht einmal sein Alter! Miles hatte Coles Angst gespürt. Natürlich war dem Kleinen nichts anderes übrig geblieben, als ihn zu erpressen. Miles war sich jedoch sicher, dass Cole niemals etwas sagen würde, da er im selben Boot saß. Das könnte auch ihn Kopf und Kragen kosten.
Die Wangen des jungen Mannes sahen leicht gerötet aus; das schwarze Haar wirkte etwas durcheinander. Zwischendurch schoben sich Coles Brauen zusammen und sein Blick wurde nachtschwarz.
Miles schmunzelte. Da ärgerte sich wohl jemand, weil sein Vorhaben vereitelt worden war. Garantiert hatte Cole hier auf den fetten Fang gehofft. Es kam schließlich nicht selten vor, dass Gäste von Bediensteten bestohlen wurden.
Miles, hingegen, wollte dem jungen Mann am liebsten einen Kuss stehlen, ihn aus seiner steifen Dienstuniform schälen, Stück für Stück den in seiner Vorstellung makellosen, strammen Körper freilegen und mit der Zungenspitze über diese sündhaft schönen Lippen mit der feinen Narbe darauf fahren. Woher er die winzige Verletzung wohl hatte?
Coles Rosenduft schien Miles immer noch in der Nase zu haben – wobei der natürlich auch von den unzähligen Rosenbüschen herrühren könnte, die ihn gerade umgaben. Bei diesem zarten Aroma wäre Miles beinahe schwach geworden. Was hatte der Kerl bloß an sich, dass er ihn begehrenswert fand? Er wusste fast nichts über Cole, außer dass er fantastisch küssen konnte und wahrscheinlich ein Dieb war. Er roch gut, obwohl er vermutlich in ärmlichen Verhältnissen lebte und nicht einfach nach einem Dienstboten rufen konnte, wenn er ein Bad nehmen wollte. Im Gegenteil, er arbeitete als Diener. Diese Bruchstücke, die scheinbar nicht zusammenpassten, machten Miles gegen seinen Willen neugierig.
Ich bin nur ein einfacher Junge von der Straße. Ich habe nichts …
Musste Cole hungern? Fror er im Winter?
Plötzlich sah Miles den Mann bei sich im Bett liegen. Dicke Schneeflocken stupsten von außen gegen die Fenster, im Kamin loderte ein Feuer, und Miles würde Cole zudecken und fest an seinen Körper ziehen, damit ihm nie mehr kalt war. Und falls er sich einfach nicht aufwärmen ließ, würde Miles für ihn die Wanne mit heißem Wasser füllen lassen …
Es zog heftig in seiner Brust, als er diese Bilder vor Augen hatte. Es wäre traumhaft, sein privilegiertes Leben mit einem anderen Menschen teilen zu dürfen. Seit Mutters Tod und vor allem seit Hastings kaum noch mit ihm boxte, fühlte er sich einsamer denn je. Oft blieb er bis mittags im Bett liegen, saß danach ganz allein an seinem großen Tisch im gelben Salon und las die Tageszeitung. Schließlich musste er informiert sein, was sich in London tat. Besonders die Artikel über die Body Snatcher interessierten ihn aktuell.
Ansonsten kümmerte er sich um die Verwaltung seiner Ländereien oder zog durch die Clubs. Das Parlament hatte nun geschlossen, sodass er sich politisch gerade nicht einbringen musste. Die meisten seiner Freunde und Bekannten reisten jetzt mit ihren Familien auf ihre Landgüter. Miles schaute oft nur wenige Male im Jahr in Essex vorbei, wo er Grund und ein Anwesen besaß, verweilte dort höchstens ein paar Tage, um nach dem Rechten zu sehen, und blieb sonst lieber in London. Er liebte es jedoch, ausgedehnte Ausritte über seine Felder und durch die Wälder zu machen. Allerdings wurde er sich in der Stille der Natur seiner Einsamkeit nur noch bewusster.
Leider begann die neue »Season« mit ihren Bällen und Veranstaltungen erst gegen April, wenn auch das Parlament wieder öffnete, sodass er wohl viel Zeit auf Londons Straßen verbringen würde, um das Verbrechen zu bekämpfen. In seinem großen Stadthaus am Cavendish Square war es ihm ansonsten ebenfalls zu still, schließlich lebte er allein. Bei ihm wohnten auch nur wenige Angestellte, und zu denen pflegte er natürlich kein engeres Verhältnis.
Miles besuchte jedoch seinen drei Jahre jüngeren Bruder und dessen Familie so oft er konnte. Thomas besaß ein kleines Häuschen in der Nähe des Regent’s Parks in einer vorzüglichen Wohngegend. Leider hatten sie beide nie ein enges Verhältnis gehabt, weil sich ihre Wege früh trennten. Während Miles auf ein Leben als Marquess vorbereitet worden war, hatte sich Thomas Geld und Ruhm auf dem Schlachtfeld verdient. Sie redeten fast immer nur über Politik und selten über private Dinge. Thomas war niemand, dem sich Miles anvertrauen würde, doch er war ein guter Kerl und sein Sohn ein freundlicher, kleiner Bursche, aus dem gewiss ein ehrbarer Mann wurde. Charles stellte einen akzeptablen Erben dar, falls er selbst niemals einen Sohn zeugen würde, dem er sein Geld und die Ländereien vermachen konnte.
Wenn er so über sein Leben nachdachte, musste er sich eingestehen, dass ihn weder die ausgedehnten Besuche in den Herrenclubs oder das Boxtraining mit Hastings noch die nächtlichen Streifzüge durch London wirklich zufriedenstellten. Im Grunde wollte er genau das, was so ziemlich jeder normale Mann wollte: dass zu Hause jemand auf ihn wartete. Und er wollte mehr über diesen Cole erfahren, der nicht nur seinen Körper, sondern auch sein Herz auf seltsame Weise berührte.
Lass die Finger von dem Dieb, ermahnte er sich ständig, aber der Kerl schien nicht nur seine Klinge, sondern längst auch sein Herz gestohlen zu haben.
Miles schnaubte belustigt. Oh je, was war denn mit ihm los? Bloß weil er in den Genuss eines himmlischen Kusses gekommen war, gingen die Gäule mit ihm durch.
Der Garten füllte sich langsam mit Gästen, die der Enge und Hitze der Salons entfliehen wollten, sodass Miles nicht mehr lange allein bleiben würde. Als Hastings und Kenneth aus der Terrassentür traten, schlug er den entgegengesetzten Weg ein. Er brauchte Zeit, um nachzudenken, musste sich noch abkühlen. Doch sein Plan ging nicht auf, denn er lief beinahe in Hastings’ Frau Emily und ihre Freundin hinein. Es war zu erwarten gewesen, dass sich Emily in der Nähe ihres Ehemannes aufhielt. Die beiden klebten meist zusammen wie Pech und Schwefel.