letzter Zeit ein wenig im Stich. Es waren zwar bereits ein paar Tage vergangen seit der Begegnung mit dem geheimnisvollen, gutaussehenden Fremden, aber Cole musste immer noch an ihn denken. Beinahe ununterbrochen! Der große Unbekannte, der ihn am Lagerhaus völlig überrascht hatte, konnte niemand anderes als dieser berüchtigte dunkle Rächer gewesen sein, daran bestand für Cole kein Zweifel. Wer sollte sonst nachts freiwillig Jagd auf Diebe machen? Cole wusste zwar nicht, was dieser Kerl für ein Motiv hatte, aber irgendetwas würde ihn schon antreiben.
Die Sache mit dem Kuss war ihm spontan eingefallen, weil er sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Immerhin hatte der Kerl ihn regelrecht in den Staub gepinnt!
Der ansehnliche Gesetzeshüter hatte verdammt gut geschmeckt und sauber gerochen, doch am meisten hatten Cole dessen Küsse gefallen. Der Kerl wusste seinen Mund verteufelt gut einzusetzen. Cole spürte fast immer noch die fremden, weichen Lippen auf seinen eigenen …
Sein ursprünglich geplantes Ablenkungsmanöver wäre beinahe gehörig in die Hose gegangen, denn er hatte sich regelrecht in den Zärtlichkeiten verloren. Niemals zuvor war er auf diese erregende Weise geküsst worden! Nur der Gedanke an Annie hatte ihn schließlich zur Vernunft gebracht, und er war aus dem süßen Traum aufgetaucht. Doch Cole würde nie das Gesicht seines attraktiven Angreifers vergessen.
Völlig versunken in seinen Erinnerungen brauchte Cole einen Moment, um zu erkennen, dass er nicht halluzinierte: Der Kerl, der ununterbrochen durch sein Hirn geisterte, kam gerade durch die Menschenmenge auf ihn zu.
Fuck!
Geschmeidig wie ein Panther bewegte sich der große, schlanke Mann, der – seiner edlen Kleidung nach zu urteilen – unverkennbar dem Adel angehörte, durch die Leute. Immer, wenn er den Zylinderhut abnahm, um zu grüßen, glänzte das dichte dunkelbraune Haar im Kerzenschein auf, das er im Nacken zusammengebunden hatte. Wenn er lächelte, bildeten sich leichte Grübchen in seinen Wangen und helle, gerade Zähne blitzten auf. Cole schätzte ihn auf knapp dreißig, er war also im besten Alter. Aber eine Frau sah er nicht an seiner Seite. Der Mann fiel jedoch auch ohne Schnatterliese auf, denn er überragte sogar den relativ großen Gastgeber Lord Hastings noch um ein Stück.
Hastig wandte Cole den Blick von dem faszinierenden Kerl ab und suchte eine Fluchtmöglichkeit durch die Menschenmassen. Warum schienen sich plötzlich alle Gäste in diesem Raum aufzuhalten? Und was machte sein Angreifer ausgerechnet hier? Der Kerl durfte ihn auf keinen Fall zu sehen bekommen!
Noch schien der Adlige ihn nicht bemerkt zu haben, denn er flirtete mit den Ladys und nickte einigen Herren zu.
»Wo steckt Rochford bloß?«, rief Lord Hastings plötzlich dicht neben Cole, sodass er leicht zusammenzuckte und beinahe das Tablett fallen ließ. Schnell stellte er es auf einem Beistelltischchen ab und bemerkte, wie seine Hände leicht zitterten. Sofort verbarg er sie hinter seinem Rücken und schlich an der Wand entlang Richtung Ausgang. Dabei donnerte sein Herz laut in seinen Ohren.
Eine korpulente Lady, die ein sehr ausladendes Kleid trug, stand in der Tür und versperrte seine einzige Fluchtmöglichkeit. Verdammt noch mal!
Ein anderer Mann neben Lord Hastings lachte. Cole sah nur dessen breite Schultern, über die sich sein Frack spannte, und das hellbraune Haar. Das musste Kenneth Bloombury sein, wie Cole bereits herausgefunden hatte. Er stammte nicht vom Adel ab und war der Gatte von Claire Bloombury, der besten Freundin von Lady Hastings. »Rochford ist sicher längst hier, um auszuspionieren, welche heiratsfähigen Damen sich unter den Gästen befinden.«
»Glaubst du ernsthaft, er möchte jetzt schon unter die Haube?« Lord Hastings schmunzelte. »Dafür liebt er seine Freiheiten zu sehr.«
»Und die Frauen!«, setzte Kenneth hinzu, bevor er Coles Angreifer winkte. »Ah, da ist Rochford ja!«
Cole schluckte und blieb wie erstarrt stehen. Der dunkle Rächer war Miles Dunmoore, der Marquess of Rochford?
Der trat zu den beiden Männern und nickte ihnen zu. »Hastings, Kenneth.«
Eiskalt lief es Cole den Rücken herunter, und er starrte atemlos zu jenem Mann, der ihn vor ein paar Tagen überwältigt und geküsst hatte. Das konnte eigentlich nicht sein, doch Cole vergaß niemals ein Gesicht! Aber … ein Adliger? Unmöglich! Vielleicht irrte er sich, denn was suchte ein Aristokrat mitten in der Nacht am Hafen? Und warum hatte er Cole angegriffen?
Das würde er wohl nie erfahren. Er musste hier raus! Für die Agentur würde er sich eine Ausrede einfallen lassen müssen und sicher bekäme er für diesen Abend keinen Lohn. Verflucht, was hatte er bloß verbrochen, dass er ständig vom Pech verfolgt wurde? Zu allem Unglück blockierte immer noch die korpulente Henne den Ausgang.
»Hast du dich beim Rasieren geschnitten, Rochford?«, fragte Lord Hastings den Marquess grinsend. »Das Messer war wohl zu scharf.«
»Verdammt scharf«, antwortete der mit demselben frechen Grinsen, und Cole stand das Bild vor Augen, als er diesem Mann die im Mondlicht aufblitzende Klinge an die Wange gedrückt hatte. Cole hatte ihn nicht verletzen wollen, bloß ein wenig einschüchtern. Jetzt hatte er jedoch Gewissheit: Das war tatsächlich derselbe Kerl wie in jener Nacht, der ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Verflucht!
Lord Hastings klopfte Rochford kameradschaftlich auf die Schulter. »Wird Zeit, dass du dir endlich einen Kammerdiener zulegst. Du wirst alt.«
Der Saal drehte sich vor Coles Augen, er bekam immer schlechter Luft.
Mach jetzt keinen Fehler!, schalt er sich, um bloß keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Marquess durfte ihn auf keinen Fall erkennen! Bestimmt hatte er die besten Beziehungen zu allen möglichen Leuten, die in London etwas zu sagen hatten. Ein Wort würde genügen, und Cole landete im Gefängnis. Schließlich kannte er die geheime Identität des Adligen! Und der würde bestimmt nicht wollen, dass sie ans Licht kam …
Coles Panik wuchs. Er hatte zuvor natürlich die Gästeliste studiert und besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Der Name Rochford war ihm bekannt vorgekommen, denn im Laufe der Jahre hatte Cole auf den Veranstaltungen fast über jeden Londoner mit Rang und Namen Geschichten gehört. Lord Rochford sollte sich gerne in diversen Herrenclubs herumtreiben, Karten spielen und ein Frauenheld sein.
Er scheint auch ansonsten keine Chance auszulassen, um ein wenig Spaß zu haben, dachte Cole angesäuert und erinnerte sich an die leidenschaftlichen Küsse. Kein Mann, der sich lediglich nach Frauen verzehrte, küsste auf diese Weise einen anderen Kerl, oder? Begehrte der Lord vielleicht nicht nur das weibliche Geschlecht, sondern auch Männer? Auf Sodomie stand die Todesstrafe durch Erhängen!
Erst vor zwei Jahren, ebenfalls im August – Cole erinnerte sich so genau daran, weil Annie gestern Geburtstag gehabt und er ihr damals ein rosa Seidenband gekauft hatte, mit dem sie ihren alten Hut verzieren wollte –, war ein berühmter Kapitän deswegen hingerichtet worden. Es traf also auch durchaus bekannte Persönlichkeiten. Über diesen Inhaftierten hatte ein ganzer Artikel im »London Courier« gestanden:
Captain Henry Nicholas Nicholls wurde am vergangenen Samstag in Croydon nach den klarsten Beweisen eines Kapitalverbrechens überführt und wegen Sodomie verurteilt. Der Gefangene war während des gesamten Prozesses vollkommen ruhig und ungerührt, selbst als das Todesurteil gegen ihn verhängt wurde. Um 9 Uhr morgens wurde das Urteil, Tod durch Erhängen, in Kraft gesetzt. Der fünfzigjährige Täter war ein gutaussehender Mann und hatte im Krieg heldenhaft gegen Napoleon gekämpft. Er war mit einer hoch angesehenen Familie verbunden, aber seit seiner Festnahme besuchte ihn kein einziges Mitglied davon …
Cole wurde es schwarz vor Augen. Er hatte den Lord zuerst geküsst, und der würde es vor dem Richter beschwören, von ihm verführt worden zu sein. So lief es doch immer! Wer von der Straße kam, hatte keine Rechte.
Würde Annie ihn im Gefängnis besuchen kommen, bevor er gehängt wurde? Oder so tun, als würde sie ihn nicht kennen?
Sie wusste nichts von seiner Neigung. Niemand wusste das. Cole war sich lange Zeit selbst nicht sicher gewesen, obwohl er lieber Männern als Frauen hinterher sah und sogar schon einmal mit einem Jungen herumgemacht hatte. Doch als der Lord ihn geküsst hatte, war ihm schlagartig klar geworden,