Hugo Bettauer

Kampf um Wien


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zu einer heftigen Szene, die seitens des alten Flanagan mit den Worten beschlossen wurde:

      „Wahrhaftig, am liebsten würde ich die Millionen, die ich erworben, in den See werfen! Du wirst es nie verstehen, ein solches Vermögen zu halten oder gar zu vermehren.“

      Damals erfuhr Ralph zum erstenmal, daß sein Vater Millionär sei.

      Der große Weltkrieg kam, Ralph wurde rasch zum Offizier befördert, bevor er aber dazu kam, an die französische Front abzugehen, waren die Mittelmächte niedergebrochen, Deutschland gedemütigt und Österreich bei lebendigem Leib zerstückelt. Bitterlich weinte die noch immer zart und mädchenhaft aussehende Frau Lola, wenn sie von dem Elend Wiens, dem Hunger der Wiener Kinder, dem Jammer der alten Rentner las, und was sie an Geld, mit dem sie recht knapp gehalten wurde, erübrigen konnte, wanderte über den Ozean nach Wien. Lebendiger als je zuvor wurde ihr die Erinnerung an die geliebte Vaterstadt, stundenlang erzählte sie abends, wenn Ralph verdrossen und mit seinem Leben unzufrieden bei ihr saß und ihr Gatte noch bis in die Nacht hinein im Kontor arbeitete, von Wien, von der einzigartigen Schönheit dieser Stadt, ihren milden Sitten, die überall in Musik ausklängen, von Wiener Herzlichkeit und Gemütlichkeit.

      Am 2. Dezember 1921 brachten die amerikanischen Zeitungen übertriebene Berichte von den Plünderungen, die in Wien vor sich gegangen seien, von Bränden, die die halbe Stadt verwüstet hätten, von tausenden Toten und offener Anarchie. Frau Lola, die sich nicht hatte abgewöhnen können, amerikanischen Zeitungen zu glauben, weinte in ihrem Bett stundenlang, am Morgen fühlte sie sich schwach und elend, der Arzt stellte ein schweres Herzleiden, Erbschaft ihrer Mutter, fest, und als der alte, weiß gewordene O’Flanagan alle Anordnungen traf, um seine Frau nach dem milden Süden der Floridanischen Küste zu schikken, war es zu spät. Die kleine Wienerin starb in den Armen des Sohnes und ihre letzten Worte waren:

      „Wenn du einmal nach Wien kommst ...“

      Ein halbes Jahr später verlor Ralph auch den Vater. Es war die Nachricht eingelangt, daß ein mächtiges Sägewerk, fünfhundert Kilometer von St. Paul entfernt, in Brand geraten sei und O’Flanagan ließ es sich nicht nehmen, in der Nacht die Fahrt per Auto dorthin anzutreten. Ungeduldig feuerte er den Chauffeur zu immer größerer Geschwindigkeit an, bis der mächtige Wagen gegen einen Prellstein fuhr, sich überschlug und unter seinen Trümmern O’Flanagan begrub.

      Unmittelbar nach dem Leichenbegängnis, an dem ganz St. Paul teilnahm, wurde das Testament eröffnet, und Ralph erfuhr zu seinem maßlosen Erstaunen, daß er Alleinherr eines Vermögens war, das alle Begriffe übertraf. Die Zeitungen übertrieben nicht wesentlich, als sie verkündeten, daß der kaum dreißigjährige Ralph O’Flanagan einer der reichsten Männer, wenn nicht gar der reichste der Welt sei, und die Erbschaftsbehörden waren wochenlang beschäftigt, bevor sie vollen Einblick in den Umfang der O’Flanaganschen Betriebe gewannen. In eingeweihten Kreisen sprach man davon, daß O’Flanagan der Herr eines Großteils der amerikanischen Wälder und der Besitzer von drei Viertel Aktien der größten Holzindustrien des Landes gewesen sei. Man munkelte von einem Totalvermögen von mehr als tausend Millionen Dollar, womit Rockefeller auf die zweite Stelle verdrängt worden sei.

      Ralph stand all dem fassungslos gegenüber. Er hatte das Leben eines beliebigen Durchschnittsamerikaners geführt, als erwachsener Mensch von seinem Vater einen Gehalt bezogen, der knapp für seine kleinen Auslagen reichte, die ersehnte Europareise war ihm nicht gestattet worden, wenn eine Rechnung vom Buchhändler kam, schimpfte sein Vater über unsinnige Verschwendung, karg und hart war seine ganze Jugend gewesen und nun stand er plötzlich als moderner Krösus, als unabhängiger Herr und Gebieter, dem die ganze Welt gehörte, da.

      Daß er nicht das Zeug in sich hatte, weiterhin den Industriekönig zu spielen und Millionen zu erraffen, wußte Ralph ganz genau, und er war beglückt, als wenige Wochen nach Vaters Tod der alte Walker ihm vorschlug, aus allen den vielen Unternehmungen eine einzige große Aktiengesellschaft zu bilden, an deren Spitze er nur nominell stehen würde. Einige Wochen vergingen mit den Vorbereitungen, dann konnte der junge O’Flanagan in Begleitung seines Dieners und Milchbruders Sam nach New York fahren, wo die Verhandlungen zum Abschluß kamen. Die ganz Nordamerika, Kanada und Mexiko umspannende American Wood- and Forest Trust Company war gebildet, Ralph O’Flanagan ihr nomineller Präsident, ohne eigentlichen Beruf, aber mit dem vollen Bewußtsein der Verantwortung, die ihm sein unschätzbares Vermögen auferlegte, stand er der Zukunft gegenüber.

      Wie sich diese Zukunft vorläufig gestalten würde, stand für ihn vollständig fest. Die letzten Worte seiner geliebten Mutter waren schicksalsbestimmend. Er wollte in seine Urheimat, in die Stadt, aus der er durch das Herz seiner Mutter die Liebe zu allem Höheren geerbt hatte. Er wollte dieses Wien, das er liebte, ohne es zu kennen, erfassen, wollte sehen, ob sich der Niedergang eines Kulturzentrums durch werktätige Arbeit, der fast unversiegbare Mittel zur Seite standen, aufhalten ließe.

      Und so kam Ralph O’Flanagan im Dezember des Jahres 1922 nach Wien und machte seinen ersten Spaziergang durch die Straßen einer Stadt, die ihm fremd war und doch mit jedem Schritt ein wärmeres und behaglicheres Empfinden gab.

      5. Kapitel

      Das Mädchen in der Elektrischen.

      Ralph verließ den Graben, ging aufs Geratewohl durch die Bognergasse über Hof und Freyung und zollte den Bankpalästen seine Bewunderung. Diese stieg, als ihm ein Passant auf seine Frage mitteilte, daß das Neugebäude der Kreditanstalt erst vor einem Jahr fertig geworden sei. Also hatte man in Not und Verarmung, trotz Teuerung und rasender Geldentwertung doch Mittel und Wege gefunden, um einen stolzen, kostbaren Bau zu errichten, einen Bau, der jenem Kapitalismus dient, dessen Ende nach dem Umsturz bevorzustehen schien.

      Am Schottentor stand der Amerikaner fast hilflos einem Durcheinander von Wagen gegenüber. Er, der eben aus New York kam, wagte kaum, den Platz zu queren. Von links und rechts, von vorne und rückwärts kamen Straßenbahnwagen, Autos und Schwerfuhrwerke, und vergebens sah sich Ralph nach dem amerikanischen Policeman um, der drüben bei tausendfach dichtem Verkehr durch einen Wink mit der Hand Ordnung zu machen versteht.

      Immerhin, es scheint auch so zu gehen, dachte O’Flanagan, aber schon ging es nicht mehr. Zwischen zwei Straßenbahnzüge kam ein Pferdewagen, und die drei bildeten einen Knäuel, einen Wirrwarr, der von Tobsuchtsanfällen begleitet wurde, an denen sich vier Schaffner, zwei Motormänner, ein Kutscher und etwa dreißig Passagiere und Passanten beteiligten.

      Belustigt sah Ralph dem erheiternden Schauspiel zu. Plötzlich kreuzte sich sein Blick mit dem eines Mädchens, das in einem der Straßenbahnwagen saß. Ralph zuckte zusammen, fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß. Lieblicheres hatte er noch nie gesehen. Ein schlankes Ding mit dunkelblonden Haaren, deren Fülle der kleine Lederhut kaum bergen konnte. Große, schiefergraue Augen, von fast schwarzen Wimpern umrandet, sahen ihn, der fasziniert hinstarrte, fragend an, wandten sich rauh wieder ab und ein rosiger Hauch überzog das ovale, feine Gesicht.

      In diesem Augenblick löste sich der Knäuel, der Kutscher hieb fluchend auf seine Pferde ein, die Motormänner kurbelten an und fuhren weiter.

      Ralph zögerte, kam zu spät zum Entschluß, den Wagen, in dem das Mädchen saß, zu besteigen. Schon hatte ein Postelektromobil ihm den Weg versperrt, und in voller Fahrt sauste die Elektrische die Währingerstraße entlang.

      Ralph war es aber, als würde durch die Scheiben hindurch ihn noch ein Blick aus den traumhaft schönen Augen treffen. Rasch wandte er sich an einen Schutzmann mit der Frage, wohin der eben entschwundene Wagen fahre. Und schrieb die Antwort „Nach Währing in die Kreuzgasse“ in sein Notizbuch.

      In der Zwischenzeit hatte man sich im Hotel Imperial mit der Person des neuangekommenen Amerikaners befaßt und es war ein seltsames Interview zustandegekommen.

      Der kleine Doktor Züngel, Spezialreferent der „Presse“ für englische und amerikanische Angelegenheiten, hatte wieder einmal seine Runde durch die Ringhotels gemacht, um nach interessanten Persönlichkeiten zu fahnden. Erst im Hotel Imperial kam Doktor Züngel auf seine Rechnung. „Ralph O’Flanagan, mit Diener“, das klang schon nach etwas. Nun ist der irische Name O’Flanagan drüben nicht selten und der Journalist ließ sich zur genaueren Information