Hugo Bettauer

Kampf um Wien


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und Ralph stand an der Ecke der Stadiongasse und des Ringes in unmittelbarer Nähe eines Häufleins Schaufler, die eben kurze Rast machten. Unter ihnen befand sich ein alter Herr mit weißem Knebelbart, der sich erschöpft an den Haltestellenpfahl lehnte. Ralph überwand sein angeborenes Taktgefühl und sagte scheinbar obenhin:

      „Ungewohnte Arbeit, mein Herr, was?“

      Der Alte lächelte.

      „Hätte es mir im Jahre 1912, als ich mich von der Firma, bei der ich vierzig Jahre Buchhalter gewesen war, pensionieren ließ, nicht träumen lassen, daß ich – Aber was soll man machen? Eine alte Frau zu Hause und einen kranken Bruder – verhungern will man doch nicht und so nimmt man das weiße Brot, das vom Himmel fällt.“

      Andere Schaufler waren hinzugetreten. Ein junges Mädchen klagte: „Ich hab die Handelsschule absolviert und war froh, verdienen zu können, und jetzt finde ich keine Stellung. Man kann sich ja auch gar nicht ordentlich umschauen, das Porto, das Briefpapier ist so teuer und eine Fahrt mit der Elektrischen kaum zu erschwingen. Und den Eltern, denen es selbst nicht gut geht, will man halt doch nicht ganz zur Last fallen.“

      Eine Frau mit nicht unfeinen Gesichtszügen stimmte ein:

      „Wenn man sich nur nicht so um die Kinder ängstigen müßte. Sie sind allein zu Haus, vormittags geh’ ich bedienen, nachmittags wieder, und sie werden mir noch ganz verkommen. Jetzt hab’ ich für den Vormittag keine Arbeit und so verdien’ ich mir halt Zehntausend mit dem Schneeschaufeln.“

      Der Amerikaner biß sich auf die Lippen, steckte dem alten Herrn ein Bündel österreichischer Banknoten zu, die er lose in der Hosentasche trug, und raste davon, ohne sich nochmals umzusehen.

      Elend genug hatte er auch in den amerikanischen Großstädten gesehen, aber hier erschien ihm alles hoffnungsloser, peinigender zu sein als in den New Yorker und Chikagoer Slums. Dort konnten sich die Menschen immer wieder aufraffen, hier war das Elend resigniert, müde, dumpf.

      Er ging dem Schottentor zu und wartete, wie gestern und vorgestern, einen F-Wagen nach dem anderen ab. Schämte sich dieses nutzlosen und knabenhaften Beginnens und konnte doch nicht die Hoffnung aufgeben, das blonde Mädchen mit den großen, klugen, grauen Augen, das er am Tage seiner Ankunft wie im Fluge gesehen, wieder zu finden.

      9. Kapitel

      Ein Gespräch mit dem Kanzler.

      Als er dann schließlich müde, erfüllt von Unlustgefühlen, nach dem Hotel zurückkehrte, wartete Sektionsrat Winder auf ihn, überbrachte die Grüße der Regierung, die sich glücklich schätze, einen so illustren Gast zu beherbergen, und versicherte, daß sich der oberste Beamte Österreichs, der Bundeskanzler, sicher freuen würde, Mister Ralph O’Flanagan kennen zu lernen.

      Ralph war auf das peinlichste überrascht. Fremde Mächte griffen nach ihm, zerrten ihn, der in aller Stille sehen, prüfen und urteilen hatte wollen, ins grelle Tageslicht, verwickelten ihn in Affären, deren Tragweite er noch nicht kannte. Aber was tun? Wäre es nicht verletzende Mißachtung gewesen, wenn er der Einladung des Oberhauptes eines kleinen, unglücklichen, aber kulturell so hoch stehenden Landes nicht folgte? Würde sich nicht jeder Fremde in Amerika glücklich schätzen, wenn ihn Präsident Harding einladen wollte? Und vielleicht, wahrscheinlich sogar war der österreichische Bundeskanzler, dessen Namen Ralph vorläufig nicht einmal kannte, dem amerikanischen Präsidenten in mehr als einer Beziehung überlegen. Er selbst aber? Was war er denn? Nichts als ein durch den Zufall der Geburt enorm reicher Mann, der aber sonst noch nichts geleistet, keinerlei Beweise für Wert oder Unwert gegeben.

      So zwang sich denn Ralph zur ausgesuchtesten Höflichkeit und erklärte, es würde ihm ein Vergnügen sein, beim Bundeskanzler vorzusprechen.

      Der Präsidialist atmete auf.

      „Doktor Seipel wird sich wirklich freuen. Wenn es Mister O’Flanagan vielleicht heute passen würde? Nachmittags um vier Uhr ist der Kanzler frei.“

      Je rascher das vorübergeht desto besser, dachte der Amerikaner und nahm an.

      Gleich nach dem Luncheon begab sich Ralph nach einer der großen Autoausstellungshallen am Ring, prüfte mit Kennerblick die prachtvollen Wagen, entschied sich für einen glanzvoll ausgestatteten 60 HP-Wagen mit geschlossener Karosserie, knüpfte aber an den Kauf einige Bedingungen:

      „Ich nehme das Auto nur, wenn mir innerhalb einer Stunde eine Garage, ein erstklassiger Chauffeur zur Verfügung steht, Öl und Benzin besorgt wird und der Wagen fix und fertig vor dem Hotel Imperial steht.“

      Wenn es durchaus sein muß und jemand von einem Preis von 450 Millionen nicht einen Heller herunterhandelt, kann man sich auch in Wien eilen und das Unmögliche möglich machen. Und so stand denn wirklich um drei Uhr das funkelnagelneue Auto mit einem wie ein depossedierter Fürst aussehenden Chauffeur vor dem Hotel.

      Einige Minuten später hatte es den Amerikaner nach der Herrengasse 7 gebracht und ohne auch nur die üblichen fünf Minuten warten zu müssen, wurde Ralph dem Bundeskanzler vorgestellt.

      Dr. Seipel war ganz Wohlwollen und Jovialität, rückte Schachteln mit Zigarren und Zigaretten herbei und begann:

      „Ich danke Ihnen für Ihren Besuch, der ja nicht ausbleiben konnte, wenn die Zeitungsnachrichten wahr sind, die besagen, daß Sie, um das Andenken Ihrer seligen Mutter zu ehren, hier in diesem so klein und arm gewordenen Lande helfend eingreifen wollen.“

      „Wahr und nicht wahr sind diese Nachrichten, Herr Bundeskanzler! Im Tiefinneren liegt mir allerdings das Schicksal Österreichs nahe, aber noch habe ich keinerlei feste Pläne, noch bin ich mir ganz im unklaren, wie, mit welchen Mitteln und ob überhaupt für mich die Möglichkeit besteht, das zu tun, was berufsmäßigen Staatsmännern, Diplomaten, den weisen Herren des Völkerbundes bisher nicht gelungen ist.“

      „Nicht gelungen ist, weil man uns mit kühlen, rechnerischen Erwägungen nicht helfen kann. Dazu gehört mehr als nur Geld, dazu gehört Gefühl und Herzensteilnahme. Und eben diese beiden Momente müssen bei Ihnen, dem Sohn einer Wienerin, vorhanden sein.“

      Sehr geschickt, diesmal einen ein wenig salbungsvollen Ton anschlagend, brachte der Kanzler das Gespräch immer wieder auf Ralphs Mutter, ließ sich von dem jungen Amerikaner alles das erzählen, was er wußte, und Ralph wurde unwillkürlich warm, ging mehr aus sich heraus als er beabsichtigt hatte.

      Dr. Seipel benutzte das und begann von dem Elend Wiens zu erzählen, von den moralischen Verwüstungen als Folge der Geldentwertung, von dem unaufhaltsamen Niedergang der großen Bildungsinstitute, die nicht in der Lage seien, ihre Bibliotheken und Laboratorien zu ergänzen, genug Kohle anzuschaffen, um die Hörsäle zu heizen.

      „Schauen Sie nur unsere Universität, diese weltberühmte Alma mater Vindobonensis an. Einer der großen Gelehrten nach dem anderen verläßt Wien, weil er seine Existenz verbessern will, wir sind nicht mehr in der Lage, bedeutende Kräfte zu gewinnen, die Universitätsbibliothek beginnt ein Torso zu werden. Vielleicht wäre hier für jemanden, der die Mittel dazu hat, die erste Gelegenheit gegeben, sich großherzig und segenspendend zu betätigen.“

      Diesmal erschien das mokante Lächeln auf den Lippen des Amerikaners, der glücklicherweise von seinem irischen Vater ein wenig Skepsis geerbt hatte.

      „Es scheint aber, als wenn an dieser tatsächlich weltberühmten Wiener Universität reichlich viel Politik betrieben werden würde. Ich las eben erst gestern in den Zeitungen einen Aufsatz des Rektors, in dem er sich mit den Bestrebungen chavinistischer Elemente einverstanden erklärt und sich für eine gewaltsame Beschränkung von Hörern und Lehrern, die anderen Glaubens sind, ausspricht. Ich muß gestehen, daß ich davon den peinlichsten Eindruck empfangen habe. Wir Amerikaner sehen in unseren Universitäten freie Bildungsstätten für jedermann und würden es als geradezu ungeheuerlich empfinden, wenn von Harvard oder Yale junge Leute ausgeschlossen würden, weil sie Mohammedaner, Juden oder Atheisten sind.“

      Der Kanzler nickte scheinbar beifällig.

      „Ganz richtig, Lehr- und Lernfreiheit müssen herrschen. Aber wenn Sie den Aufsatz des Herrn Rektors, mit dem ich ja nicht