war seiner Aufforderung nachgekommen und hatte den Verband vom Fuß entfernt. Sie hob ihn hoch. Er fühlte sich wie gefroren an.
»Wie reden Sie denn von unserem Chef?«
»Was machen Sie denn da?« Volker schrie vor Schmerzen.
»Das erkläre ich, wenn Sie sich entschuldigen.« Die Chirurgin lächelte kalt und drehte den Fuß in die andere Richtung.
»Ich denke ja nicht im Traum … auaaaa, Entschuldigung. Ich habe es nicht so gemeint. Und jetzt lassen Sie sofort los!«
Geschäftig beugte sich Dr. Lekutat über den geschwollenen Fuß, der so weiß war wie das Laken. Dass er kalt war, hatte sie vorhin schon festgestellt.
»Das sieht nicht gut aus.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, Sie müssen sich demnächst an eine Prothese gewöhnen.«
Um ein Haar wäre Lammers aus dem Bett gefallen. Sein Gesicht wurde ebenso blass wie sein Fuß.
»Wie bitte?«
»Kleiner Scherz am Rande. Können Sie das gute Stück bewegen?«
Er versuchte es. Seine Wangen röteten sich.
»Besser als nichts.« Christine Lekutat hatte genug gesehen. »Dr. Norden ist nicht verantwortlich für Ihre Schmerzen. Als Chirurg sollten Sie wissen, dass Schmerzen bei passiver Drehung, eine blasse, kühle Haut, die Schwellung und starke Schmerzen typische Symptome eines Kompartmentsyndroms sind.«
»Kompartmentsyndrom?« Wie ein Toter lag Volker im Bett und streckte alle Viere von sich. Nur sein Blinzeln verriet, dass er sich noch im Hier und Jetzt befand.
»Wenn Sie diese Vorlesung nicht geschwänzt hätten, wüssten Sie, dass ein Kompartmentsyndrom entsteht, wenn Gewebe nach einer Verletzung anschwillt, sich aber nicht ausdehnen kann«, dozierte sie mit hoch erhobenem Zeigefinger. »Wird es nicht behandelt, kann es schwere Folgen haben. Durch die Druckerhöhung kann das Gewebe nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden. Schlimmstenfalls zerfällt Muskelgewebe und vergiftet lebenswichtige Organe. Dann sind Sie nicht nur Ihren Fuß, sondern auch Ihr Leben los.«
Volker Lammers drehte den Kopf weg. Auf keinen Fall sollte Christine Lekutat sehen, dass er am liebsten geweint hätte.
»Bitte helfen Sie mir!«, flüsterte er. Zu mehr reichte die Kraft nicht mehr.
Dr. Lekutat nickte lächelnd.
»Das klingt doch schon viel besser.« Sie zückte das Handy. Wie immer traf sie zwei Tasten auf einmal und musste die Eingabe mehrmals wiederholen. Endlich hatte sie die OP-Schwester am Apparat. »Lekutat hier. Wir haben ein akutes Kompartmentsyndrom. Ist ein OP frei? Ja, danke. Ich bin in fünf Minuten da.«
*
Nach der Sitzung des Arzneimittelausschusses kam Dr. Daniel Norden der Bitte seines Freundes und Kollegen nach. Zu dritt standen Sie vor dem großen Bildschirm an der Wand und betrachteten die Schwarzweißbilder, die ein Laie für Kraterlandschaften auf dem Mond gehalten hätte.
»Sieht gut aus«, stellte er fest.
»Danke für das Lob.« Matthias zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Das gilt auch für Sie, Frau Petzold.« Er nickte der Assistenzärztin zu, ehe er sich wieder auf den Bildschirm konzentrierte. »Die Milz müssen wir weiter beobachten. Und natürlich auch noch den Grund für die Blutung herausfinden.« Er drückte auf eine Taste des Laptops. »Hier haben wir die Aufnahmen des Brustkorbs.«
Sophie stutzte. Sie rieb sich die Augen, blinzelte und sah noch einmal hin.
»Da, bei den Rippen, das sieht auch nach Einblutungen aus.«
»Der Kandidat hat so viele Waschmaschinen gewonnen, wie er tragen kann«, entfuhr es Dr. Weigand.
Er hatte kaum ausgesprochen, als ihn der tadelnde Blick seines Chefs traf.
Matthias räusperte sich.
»Tut mir leid. Ich habe heute Nacht schlecht geschlafen.«
»Nur heute Nacht?«, platzte Sophie heraus.
Daniel Norden schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das Bild.
»Einblutung und Armfraktur sind nicht auf derselben Seite. Wenn wir davon ausgehen, dass diese Verletzungen allesamt bei dem Sturz entstanden sind …«
»Tun wir das? Ich habe da eher eine andere Theorie.«
»Und die lautet?«
Matthias Weigand zögerte.
»Warum will Rosa Berger ihren Enkel nicht sehen?« Er sah Daniel fragend an.
»Du denkst, dieser Christian hat etwas damit zu tun?« Dr. Norden fuhr sich mehrmals über das glatt rasierte Kinn. »Welchen Grund sollte er haben?«
»Herr Berger pflegt einen aufwändigen Lebensstil. Möglicherweise hat er Probleme, ihn zu halten. In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu erfahren, ob Frau Berger eine Lebensversicherung auf seinen Namen abgeschlossen hat. Als ich ihn gestern nach dem Sturz gefragt habe, wurden seine Pupillen groß. Seitdem frage ich mich, warum er erschrocken ist.«
»Das ist ein schwerer Verdacht.«
»Ich weiß.« Matthias Weigand seufzte. »Und ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was wir damit anfangen sollen.«
»Das Gesetz hat eine klare Antwort auf diese Frage«, bemerkte Sophie aus dem Hintergrund.
Matthias verdrehte die Augen.
»Ein Glück, dass wir Sie haben, verehrte Frau Petzold«, knurrte er. Er nickte den beiden zu und verließ das Büro ohne ein weiteres Wort.
»Was hat er denn?«, wunderte sich Dr. Norden.
»Wie meinen Sie das? Ich kenne ihn gar nicht anders.«
»Sie dürfen sich den Umgangston nicht so sehr zu Herzen nehmen. An einer Klinik herrscht nun einmal ein raueres Klima als in einer gemütlichen Landarztpraxis.«
Sophies Unterlippe begann zu zittern.
»Darum geht es ja gar nicht.« Bevor das Wasser über die Ufer treten konnte, drehte sie sich um und verließ fluchtartig das Büro.
Daniel stand neben dem Schreibtisch. Mechanisch klappte er den Laptop zu und schaltete den großen Monitor an der Wand aus. Dann verließ auch er das Zimmer. Er musste dringend ungestört nachdenken. Das ging am besten in seinem Büro, an seinem Schreibtisch mit Blick auf den Klinikgarten. Sein Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen.
*
Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe.
»So ein Mist!« Nur ein paar Minuten, nachdem er sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, warf Daniel den Hörer auf die Gabel. Er sprang auf.
Der Schreibtischstuhl rollte rückwärts und landete mit einem Krachen an der Wand. Daniel achtete nicht darauf. Er stürmte genau in dem Moment aus seinem Büro, in dem Dieter Fuchs die Hand auf die Türklinke legte.
Daniel taumelte rückwärts. Gleichzeitig fragte er sich, ob er noch mit seiner Frau in den nächtlichen Sternenhimmel blickte. Erst dann folgte der Schmerz.
»Ich wusste ja, dass Sie einen Holzkopf haben. Aber der Betonschädel war mir neu!«, jammerte der Verwaltungsdirektor.
Daniel blinzelte.
»Sie machen jedem Nashorn Konkurrenz.«
»Lachen Sie nur. Sie haben ja keine Ahnung.«
Andrea Sander sprang vom Stuhl auf und eilte zum Kühlschrank. Jetzt zahlte es sich aus, dass sie für einen Vorrat an Coldpacks gesorgt hatte.
»Frau Kampe kann noch etwas lernen von Ihnen.« Fuchs drückte das blaue Kissen an die Stirn. »Ich werde Sie bei Bedarf bei Ihnen vorbeischicken.«
»Tun Sie das. Ich weiß, wo man die besten Coldpacks im ganzen Land bekommt. Haben Sie denn einen Kühlschrank in Ihrem Büro?«