Wilhelm Borcherding

Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun: Reclam Lektüreschlüssel XL


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      Seit dem ersten Schultag muss sie Spott und Hohn ertragen. Ihre Schulkameradinnen und -kameraden hänseln sie und lachen sie aus, so dass sie sich als Außenseiterin fühlt. Anlass ist etwa Doris’ ungewöhnliches Kleid, das ihr die Mutter aufgrund der schwierigen materiellen Situation der Familie aus Gardinenstoff genäht hat; es ist weder zeit- noch kindgemäß. Doris leidet sehr unter diesen Erniedrigungen und setzt sich heftig zur Wehr. Die Herabwürdigungen prägen sie so nachhaltig, dass sie beschließt, alles zu unternehmen, um niemals wieder in ihrem Leben solche Diskriminierungen erleben zu müssen. Statt ausgelacht zu werden, will sie selbst auf andere herunterschauen und sich über sie amüsieren. Nach Abschluss der Schulzeit absolviert sie eine Lehre. Da sie aber die deutsche Sprache und die Kommasetzung nicht vollständig beherrscht, findet sie zunächst keine Lehrstelle.

       Lebensentwurf Doris arbeitet zu Beginn des Romans mit mehreren Kolleginnen als Stenotypistin in einer Rechtsanwaltskanzlei. Die Tätigkeit führt sie nicht besonders gern aus, weil es ihr bisher nicht gelungen ist, die seit der Schulzeit bestehende Rechtschreibschwäche zu überwinden. Sie spricht zwar keinen Dialekt wie ihre Eltern, aber die Briefe und Schriftsätze, die sie für ihren Chef verfasst, sind häufig fehlerhaft. So bekommt sie des Öfteren Probleme mit ihm. Sie bezweifelt ohnehin, dass er sie noch lange in der Kanzlei beschäftigen wird. Es gelingt ihr für einen gewissen Zeitraum, die Zweifel ihres Arbeitgebers an ihren beruflichen Kompetenzen durch sinnliche Blicke, die sie ihm während der Besprechungen zuwirft, zu zerstreuen und ihn davon abzuhalten, ihr zu kündigen.

      Sie will so oder so nicht mehr lange als Stenotypistin für ihn tätig sein, weil sie glaubt, ein »ungewöhnlicher Mensch« (S. 8) zu sein und dass »etwas Großartiges« und »etwas Besonderes« in ihr vorgeht. Sie will eine Künstlerin, ein »Glanz« (S. 45), werden und ein luxuriöses Leben führen, so wie sie es bei den jungen Frauen in den Filmen gesehen hat. Ihr Vorbild ist die amerikanische Schauspielerin Colleen Moore, der sie in gewisser Weise ähnlich sieht.

      Abb. 1: Die amerikanische Schauspielerin Colleen Moore, 1920

      Deshalb entschließt sie sich, ihr zukünftiges Leben in einem ›Drehbuch‹ zu dokumentieren (»ich will schreiben wie Film«, S. 8). In einem »schwarze[n], dicke[n] Heft« (S. 10) notiert sie ab jetzt ihre Vorstellungen, Träume und Erfahrungen.

      Doris kann jedoch das Leben, das sie führen will, nicht mit ihrem Einkommen Finanzielle Situation finanzieren. Sie muss ihre Eltern finanziell unterstützen. Ihr Stiefvater ist arbeitslos und trinkt zudem. Die Mutter verdient als Garderobiere im Theater nicht genug, um davon sich und ihren Mann ernähren zu können. Also gibt Doris von ihren 120 Mark, die sie im Monat verdient, 70 Mark als Haushaltszuschuss und Miete für ihr häusliches Zimmer an ihre Eltern ab. Sie bekundet zwar ihren Aufstiegswillen und betont ihren unbedingten Ehrgeiz, aus eigener Kraft kann sie aber den angestrebten höheren gesellschaftlichen Rang nicht erreichen. Voraussetzung für den Aufstieg ist die Anschaffung neuer Kleidung und des entsprechenden Schmucks. Um ihre Ziele zu erreichen, benötigt sie potentielle Geldgeber. Deshalb geht sie taktisch geschickt immer wieder neue Beziehungen zu Männern ein, die ihr eine neue Garderobe bezahlen oder Schmuckstücke schenken. Trotz ihres jugendlichen Alters durchschaut sie die Wünsche und Begierden ihrer Liebhaber und stellt sich auf sie ein. Sie passt ihr Verhalten bis zu einer von ihr bestimmten Grenze dem Begehren ihrer Liebhaber an, wobei sie Prostitution gänzlich ausschließt. Häufig spielt sie den Männern auch nur vor, die von ihnen geschätzten Eigenschaften zu besitzen. Doris beherrscht diese Täuschungsmanöver mittlerweile so perfekt, dass ihr die Männer nach relativ kurzer Zeit die Wünsche erfüllen. Die Beziehungen, die sie eingeht, halten meistens nicht sehr lange.

      Ihre Beziehung zu Hubert Hubert stellt eine Ausnahme dar. Doris war gerade einmal 16 Jahre alt und noch unerfahren, als sie sich dem fast 30-jährigen Doktoranden hingegeben hat. Sie betont, dass die Initiative von ihr ausgegangen sei. Von ihm behauptet sie, dass er der einzige Mann sei, den sie jemals wirklich geliebt habe. Alles, was sie in ihrem ›Drehbuch‹ über Hubert notiert, ihr gesamtes Verhalten ihm gegenüber, deutet darauf hin, dass sie ihn eigentlich noch immer liebt.

      Die beiden trennen sich nach einem Jahr wieder. Als er während der Aussprache Doris vorhält, dass sie mit ihm vor der Ehe geschlafen habe, was seinen Vorstellungen widerspreche, gerät sie in Wut und ohrfeigt ihn in der Öffentlichkeit. Doris vergleicht ihre nachfolgenden Liebhaber immer wieder mit ihrer ersten großen Liebe; daraus wird deutlich, dass sie diese Trennung gefühlsmäßig bisher noch nicht vollständig verarbeitet hat.

      Doris’ Befürchtung, ihr Chef werde sich nicht ewig mit ihr gedulden, bewahrheitet sich schließlich. Nach vielen »sinnlichen« (S. 9) Blicken und ›versehentlichem‹ Hautkontakt (S. 24) verliert er seine Beherrschung und bedrängt sie sexuell. Doris setzt sich körperlich zur Wehr und beleidigt ihn. Beides führt schließlich zu ihrer Kündigung.

      Über verschiedene Kontakte gelingt es der Mutter, Doris als Von der Statistin zum »Glanz«Statistin am Theater unterzubringen. Die Arroganz und Hochnäsigkeit unter den Schauspielerinnen (den »fertigen« [S. 31], den unerfahrenen Absolventinnen der Schauspielschule und den Praktikantinnen) verletzen das Selbstwertgefühl der Statistin. Die Schauspielerinnen treten ihr mit Verachtung gegenüber und belächeln ihre geringe Schulbildung. Doris kann sich jedoch deren Aufmerksamkeit sichern, indem sie die Lüge verbreitet, den Direktor des Theaters, Leo Olmütz, gut zu kennen, mit ihm liiert zu sein und von ihm protegiert zu werden.

      Da Doris stets nach Höherem strebt, will sie nicht auf der tiefsten Stufe der Hierarchie verharren, die von den Statisten eingenommen wird. Sie nutzt eine günstige Gelegenheit, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Eine der »fertigen« (S. 31) Schauspielerinnen soll in dem Stück, das gerade einstudiert wird, einen Satz übernehmen. Die Wahl fällt zufällig auf Mila von TrapperMila von Trapper, die sich Doris’ Hass zugezogen hat, weil sie ihr eine mangelnde Allgemeinbildung vorgeworfen hat. Damit hat Mila Doris gezwungen, einmal mehr zu schauspielern, um die Mängel zu verschleiern und den Schein zu wahren. Als die von Trapper vor der Probe die Toilette aufsucht, sperrt Doris sie dort ein, so dass die Schauspielerin die Probe verpasst. Ungefragt springt Doris für sie ein und sichert sich den Auftritt. Zudem erhält sie von der Direktion noch eine kostenlose Schauspielausbildung, so dass sie sich in ihrer Entscheidung bestätigt sieht. Doris’ Zuversicht, dass sie nunmehr akzeptiert wird, wächst. Sie hat die unterste Stufe verlassen und schaut optimistisch in die Zukunft. Zur Premiere erscheinen fast nur ihre ehemaligen Liebhaber, die Doris nach der Aufführung rühmen und behaupten, sie sei eine Attraktion für das Theater. Sie wundert sich über die große Anzahl dieser Männer, sonnt sich aber gern in deren Lob.

      Doris fürchtet allerdings, dass ihre Lüge, sie sei mit dem Theaterdirektor liiert, sie in Schwierigkeiten bringen könnte, weil die Kolleginnen und Kollegen über ihr (nur vorgetäuschtes) Verhältnis zum Direktor sprechen.

      Vor der nächsten Aufführung kommt Therese, Freundin und ehemalige Bürokollegin, zu Doris ins Theater und verkündet, dass Hubert sie im Anschluss treffen will. Doris macht sich gerade für Hubert zurecht, als der Direktor sie rufen lässt. Sie ahnt, was auf sie zukommt, und wird nervös. Auf der Suche nach ihrer Mutter geht sie durch die Garderobe, wo sie einen wertvollen Doris kommt zu ihrem Pelz Pelz erblickt. Dieser gefällt ihr so sehr, dass sie beschließt, ihn für das Treffen mit Hubert ›auszuborgen‹. Sie nimmt ihn an sich, folgt nicht der Vorladung des Direktors und verlässt das »Drecktheater« (S. 61).

      Die Begegnung mit Hubert verläuft enttäuschend. Seine Frau hat ihn verlassen und auch seine beruflichen Aussichten haben sich drastisch verschlechtert. Obwohl sie die Nacht miteinander verbringen, vergrößert sich Doris’ psychische Notlage weiter, weil er nichts weiter als eine materielle Unterstützung von ihr will. Enttäuscht verlässt sie ihn. Den Pelz bringt sie nicht zurück, weil er ihr zur ›zweiten Haut‹ geworden ist: »Der Mantel will mich, und ich will ihn, wir haben uns.« (S. 64)

      Mit Therese plant Doris ihr weiteres Vorgehen: Sie wird in die Großstadt Berlin fliehen. In der Metropole hofft sie ihrem Lebenstraum näherzukommen und ihren Lebensentwurf in die Wirklichkeit umsetzen zu können.

      Zweiter Teil: Später Herbst – und die