Wilhelm Borcherding

Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun: Reclam Lektüreschlüssel XL


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Ankunft in Berlin Stadt gemacht hat. Doris ist ›maßlos‹ beeindruckt. Die Beleuchtung und die Lichtreklame versetzen sie ebenso in Aufregung wie die vielen elegant gekleideten Menschen und die ungeheuerliche Mobilität.

      Bei ihrer Ankunft am Bahnhof Friedrichstraße tummelt »sich ungeheures Leben« (S. 71) in der Stadt, weil die französischen Politiker Pierre Laval und Aristide Briand zu politischen Verhandlungen über die Aussetzung der deutschen Reparationszahlungen zur Wiederankurbelung der Wirtschaft nach Berlin gekommen sind. Durch die Weltwirtschaftskrise war auch Deutschland in finanzielle Not geraten, die durch die Schadensersatzzahlungen (Reparationen) an die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg noch verschärft wurde. Doris wird von der Aufregung mitgerissen und zählt sich sofort zu den Berliner Bürgern. Damit sie die Ereignisse verstehen und einordnen kann, wendet sie sich an einen Passanten, der ihr die Zusammenhänge genauer erklären soll. Er lädt sie in ein Café ein. Doch statt sie aufzuklären, schildert er ihr sein Privatleben und macht ihr schöne Augen. Unter einem Vorwand verlässt sie enttäuscht das Café.

      Sie macht sich auf den Weg zu Margretchen Weißbach, einer früheren Freundin Thereses. Dort hofft sie vorübergehend Unterschlupf zu finden. Margrete steht unmittelbar vor der Geburt ihres ersten Kindes. Doris holt eine Hebamme zu Hilfe, und ein Mädchen erblickt das Licht der Welt. Familie Weißbach lebt in ärmlichen Verhältnissen, der Mann ist arbeitslos und Margrete verdient zurzeit kein Geld; Doris kann also dort nicht bleiben.

      Margrete verweist sie weiter an Tilli Scherer, in der Doris eine Gleichgesinnte findet. Auch Tilli will ein »Glanz« (S. 45) werden. Doris muss jedoch schon nach kurzer Zeit feststellen, dass die Filmbranche wenig Aussicht auf Erfolg bietet, um ein Star zu werden.

      »Es geht etwas vorwärts« (S. 78) in Berlin Gleichwohl stürzt sich Doris in das Großstadtleben, und durch ein paar Männerbekanntschaften kann sie ihr Überleben in der Metropole sichern.

      Und da sie den idealen Mann, der ihren Vorstellungen entspricht, noch immer nicht gefunden hat, sucht sie nun mit Hilfe ihres Pelzes, der das Interesse der Männer auf seine Trägerin lenken soll, nach einem geeigneten Liebhaber. Doris geht zu diesem Zeitpunkt noch immer davon aus, dass neben finanziellen Zuwendungen auch etwas Anerkennung und Liebe im Spiel sein soll. Bei einem älteren Schriftsteller unternimmt sie den ersten Versuch. Obwohl sie ihn nicht mag, folgt sie der Einladung in seine Wohnung, wo er ihr aus seinem Buch vorliest, während Doris sich die Seidenhemden seiner abwesenden Frau unter die Bluse steckt und dann verschwindet.

      Doris ist unglücklich, dass sie niemanden hat, der ihre Vorstellungen von Unterstützung und Zuneigung erfüllt. Ihre Unzufriedenheit bezieht sich auf die Tatsache, dass sie viele Dinge (noch) nicht hat, über die einige ihrer Vorbilder aus den Filmen scheinbar bereits verfügen. Sie geht aber davon aus, dass ihre Unzufriedenheit sie zu motivieren vermag, mehr Energie aufzuwenden, um auf dem Weg nach oben voranzukommen.

      In dieser Situation verspürt sie Heimweh nach ihrem Zuhause. Doris lindert ihre Sehnsucht ein wenig, indem sie einen Brief an ihre Mutter schreibt. Mehr ist allerdings nicht möglich, wenn sie der Polizei ihren Aufenthaltsort nicht verraten will, falls man sie wegen des gestohlenen Fehs weiter suchen sollte.

      Doris kann offiziell keine Arbeit ausüben, weil sie nicht polizeilich gemeldet ist. Sie benötigt aber Geld zum Überleben und arbeitet deshalb illegal als Arbeit als Kindermädchen Kindermädchen bei einer reichen Familie. Diese Tätigkeit ermöglicht ihr bis auf weiteres das Überleben im hektischen Großstadtleben. Der Familienvater, ein älterer Aktionär, verspricht ihr eine Wohnung und Geld. Die Aussicht auf ein angenehmes Leben ist verheißungsvoll, und so ist Doris schließlich bereit, sich ihm hinzugeben und sich damit über Konventionen hinwegzusetzen. Sie sieht nicht ein, warum eine Frau als anständig angesehen wird, wenn sie wegen des Geldes eine Ehe eingeht, während eine Frau als unanständig und als Prostituierte eingestuft wird, wenn sie mit einem Mann verkehrt, den sie attraktiv findet.

      Als unerwartet ein gutaussehender Freund des Ehemanns auftaucht, der Doris noch besser gefällt, verbringt sie die Nacht lieber mit ihm statt mit dem Aktionär. Der wirft Doris daraufhin aus dem ›Paradies‹, weil der Freund ihm von seiner ›Eroberung‹ erzählt und er seine »reinen Kinder[]« (S. 87) vor Doris ›schützen‹ muss. Wieder steht sie vor der Frage, wovon sie ihren Lebensunterhalt bestreiten soll.

      Doris und Tilli haben kein Geld und müssen hungern. Doris befürchtet, wie die Frauen des Zuhälters Rannowsky, der im selben Haus über ihnen wohnt, auf einer der Amüsiermeilen Berlins zu enden. Gleichzeitig will sie ihre Hoffnung nicht aufgeben, doch noch ein Glanz zu werden.

      Sie lässt sich von Mit Franz ins Resi Franz ins »Resi« (S. 89) einladen. Doris ist von der Einrichtung (Lichtobjekte, Rohrpost, Technik, usw.) so fasziniert, dass sie ins Schwärmen gerät und Berlin einfach nur noch schön findet und eine »Berliner[in]« (S. 90) sein will und dazugehören möchte. Aber Franz vermag Doris’ Vorstellungen von einem reichen Liebhaber nicht zu erfüllen, weil er nur wenig Geld besitzt und ständig nachrechnen muss, wie viel er davon ausgeben darf. Franz entpuppt sich am Ende auch in anderer Hinsicht als Problemfall. Als sie später (aus Mitleid) seinem sexuellen Drängen relativ schnell nachgibt, ist er sehr enttäuscht. Er hat immer von einem Mädchen geträumt, das sich nicht so freizügig verhält wie Doris.

      Der Besuch im »Resi« wirkt noch länger bei Doris nach. Dort ist sie auf das Berlin getroffen, das sie faszinierend findet: »Mein Leben ist Berlin, und ich bin Berlin.« (S. 92) Diese Stadt ermöglicht ihr weiterhin die Illusion, hier ihren Lebensentwurf realisieren zu können.

      Abb. 2: Das Café Josty am Potsdamer Platz, um 1930, in dem auch Doris verkehrt. – Bundesarchiv, Bild 146-1994-004-10A / Marmulla, L. / CC-BY-SA 3.0

      Berlin vermittelt Doris ein Gefühl der Freiheit: »Berlin ist mir ein Ostern, das auf Weihnachten fällt, wo alles voll schillerndem Betrieb ist.« (S. 95) Zudem scheint ihr Berlin immer noch die Garantie zu bieten, ein Glanz zu werden, auch wenn sie des Öfteren nicht weiß, was sie am nächsten Tag essen soll.

      Im Haus von Doris und Tilli wohnt auch der blinde Herr Die Episode mit Herrn Brenner Brenner. Er bietet Doris die Gelegenheit, ihm ihr Bild von Berlin auszumalen. In seiner Gegenwart vergisst Doris vorübergehend ihre Probleme und sie freut sich über seine fröhliche und freundliche Art. Er fertigt kleine Aufmerksamkeiten für sie an und gewinnt damit ihre Sympathie. Kurz bevor Herr Brenner in ein Heim kommt, führt Doris ihn durch die Stadt, die er am Ende des Bummels ambivalent findet. Während des Rundgangs gewinnt Doris selbst zusehends den Eindruck, dass es in dem Großstadtgewühl Berlins doch nicht nur die heile Welt gibt. Am Ende wird sie nachdenklich und sie stellt sich die Frage: »[W]as ist denn wohl nur kaputt auf der Welt?« (S. 119) Antworten auf die Frage hat sie nicht.

      Und dann erreicht Doris doch noch ihr Ziel, ein Endlich ein Glanz: Alexander Glanz zu werden und ganz oben in der Gesellschaft zu stehen. Bei einem ihrer vielen Kaffeeaufenthalte lernt sie den wesentlich älteren, verheirateten Firmeninhaber Alexander kennen, den sie »eine fröhliche rosa Kugel« (S. 122) oder »mein runder kleiner Edamer« (S. 123) nennt. Sie schätzt seinen Reichtum, der ihr das ersehnte Luxusleben ermöglicht, von dem sie immer geträumt hat. Als er sie fragt, ob sie nicht nur sein Geld, sondern auch ihn ein bisschen liebhabe, rührt sie das so sehr, dass sie zugibt, ihn wirklich ein bisschen liebzuhaben. Sie kann Wünsche werden erfülltkonsumieren, sich bedienen lassen, in einer Zimmerflucht am Kurfürstendamm wohnen und vieles mehr. Sie kann ihrer Mutter Wünsche erfüllen und ihre Schulden bei Therese begleichen. Obwohl sie sich selbst Schönheit attestiert, weiß sie nichts mit der Schönheit anzufangen und fragt sich zweimal, für wen sie eigentlich schön sei. Und so glaubt Doris wieder an ihre Karriere beim Film. Bei Alexander kann es Doris gut aushalten, auch wenn sie sich stundenlang seine Schilderungen aus Kindertagen anhören muss. Sie fasst ihre augenblickliche Stimmung so zusammen: »So ein Leben, so ein Leben.« (S. 125) So hat sie es sich seit dem Beginn der Niederschrift ihres ›Drehbuches‹ schon immer vorgestellt.

      Obwohl Doris weiß, dass sie nur vorübergehend Alexanders Geliebte sein kann, genießt sie es, ein Glanz zu sein. Sie kann es sich leisten, mit dem Taxi durch Berlin zu fahren. Dabei nimmt sie die Straßen wie durch eine Filmkamera wahr. So,