überlegte, daß sie jetzt doch einen Drink brauchte. Mit Larry Crane — ähm, Lorand de Cordoba, zu streiten, war oft so, als wenn man mit dem Kopf gegen eine Steinmauer anrannte. Sie stand auf, öffnete die Bar hinter der Wandtäfelung, goß sich einen großen Schluck Gin ein, ließ ein paar Eiswürfel hineinfallen, tat ein paar Tropfen Angosturabitter hinzu, schloß die Täfelung und ging wieder zu ihrem Sessel.
Sie wirbelte den rosa Gin ein paar Augenblicke um die Eiswürfel, um ihn richtig zu kühlen und trank etwa die Hälfte mit zwei schnellen Schlucken.
„Hör mal, Großer Flamen! Ellen Percivall und diese anderen haben nicht die gleichen Haß- und Rachegelüste wie Moira Tuttle. Für sie ist jeder ein Stellvertreter für den Vater — oder eine bequeme Zielscheibe, auf die sie schießen kann, weil sie nicht auf ihn schießen kann. Sie bedauert, daß er auf natürliche Weise gestorben ist. Sie wünscht sich, sie hätte ihn selbst umbringen können — langsam und grausam — mit ihren eigenen Händen. Da ihr das nicht gelungen ist, hat sie ein tiefsitzendes Bedürfnis, alles, was sie will, aus anderen herauszupressen, und sie dann als stellvertretende Opfer zu benutzen, um ihren unerfüllbaren Wunsch zu befriedigen, den verstorbenen J. Holcomb Tuttle zu ermorden. Geht das in deinen dicken Schädel?“
„Natürlich. Und mir geht auch in meinen dicken Schädel, daß man sie richtig behandeln, an der Kandare halten kann, bis der Melkprozeß seine Grenzen erreicht hat. Dann werden wir schon eine Möglichkeit finden, sie jemandem anders aufzuhängen. Nach der letzten Schätzung gibt es über 8000 ausgeflippte Sekten in unserem goldenen Staat Kalifornien. Ich garantiere dir, daß wir schon ganz schön ausgekocht sind — aber es gibt andere, die sind es noch viel mehr, nicht wahr?“
Selene trank ihren rosa Gin aus und lächelte schief. „Hmmm“, gab sie zu, „ja, es gibt einige. Nicht viele, aber einige.“ Sie lachte. „Wie der ‚Geheime und Älteste Orden der Flagellanten‘ in der Nähe von Lassen. Oder …“ „Lassen wir die Aufzählung, sonst sitzen wir noch nach Tagen daran. Gib mir nur eine ehrliche Antwort. Gibst du zu oder nicht, daß es einige verrücktere Kulttheater gibt in ganz Kalifornien — verrückter als unseres, meine ich?“
„Ja. Das gebe ich zu.“
De Cordoba stellte sein Glas auf den Tisch und spreizte seine Hände in einer ausdrucksvollen Geste.
„So, da haben wir’s! Wenn wir anfangen, bei Moira Tuttle Symptome festzustellen, daß sie unruhig wird, werden wir sie so beeinflussen, daß sie ganz verrückt auf eine wildere Umgebung wird — und ihre Triebe und Energien auf andere Ziele ablenken.“
„Eines muß man dir lassen, Larry, du schaffst es immer, alles einfach und leicht klingen zu lassen. Aber einmal angenommen, Moira gibt uns keine Warnung. Angenommen, wir fühlen nicht, daß sie unruhig wird, und sie läßt einfach die Bombe platzen. Kannst du dir nicht die Schlagzeilen vorstellen? ‚Erbin des Tuttlevermögens entlarvt Sexkult! Beschuldigt Gründer des Betrugs!‘ Ich sage dir, daß sie vollkommen verantwortungslos ist. Es ist ihr gleichgültig, wie sehr sie ihren eigenen Namen in den Schmutz zieht — vorausgesetzt, sie kann sich dadurch Publicity verschaffen und sich an den Leuten rächen, von denen sie sich übers Ohr gehauen fühlt.“
De Cordoba leerte sein Glas. „Du beschwörst Geister herauf, die es nicht gibt, Syl. Wir werden in der Lage sein, jede Änderung in Moira Tuttles Verhalten zu spüren, bevor die Änderung sich überhaupt auswirkt. Schließlich haben wir eine Menge Erfahrung mit religiösen und sexbesessenen Irren. Wie lange sind wir beide denn schon in diesem Geschäft?“
„Sechs Jahre“, antwortete Selene und gestand sich ein, daß kein weiteres Argument — so logisch es sein mochte, jetzt noch etwas nützen würde. „Sechs Jahre“, wiederholte sie und starrte resignierend vor sich hin.
Wieder erhob er sich mit seinem leeren Glas aus dem Sessel. Er langte nach ihrem und schaute sie fragend an. Sie nickte. Ja, sie wollte noch einen haben.
„Ich habe noch nie daneben gegriffen“, sagte er und ging zu der verborgenen Hausbar und mixte die beiden Drinks. Nein, noch nicht, seit du der Große Flamen bist, überlegte Selene. Aber du hast arg daneben gegriffen — sehr arg sogar, und das war kurz davor. Deshalb haben wir diese Sache überhaupt erst angefangen.
Ihre Erinnerung setzte ein. Ihr Gedächtnis schaltete zurück zu einem Ereignis vor etwas mehr als sechs Jahren …
Sylvia Phillips, staatlich geprüfte Krankenpflegerin.
Sylvia Phillips, die sich auf Psychiatrie spezialisiert hatte und bei Dr. Lawrence „Larry“ Crane angestellt war, einer der jüngeren, aber bereits wohlhabenden Psychiater in San Francisco mit einer rasch anwachsenden Privatpraxis. Sie war kaum eine Woche bei ihm beschäftigt, als sie mit ihrem gut aussehenden Brötchengeber ins Bett ging. Bald war sie beinahe in ihn verliebt. Beinahe, weil die psychologische Bezeichnung „sinnliche Fixierung“ seit kurzer Zeit benutzt wurde, um zu erklären, weshalb eine Person vorzugsweise — oder ausschließlich — mit einer bestimmten Person des anderen Geschlechtes sexuelle Beziehungen hatte.
Deshalb konnte Sylvia es nicht wirklich verliebt nennen, denn sonst hätte sie die Gültigkeit wissenschaftlicher Prinzipien und Theorien bezweifelt, von denen sie ganz und gar überzeugt war.
In diesem Fall schien jedoch das Konzept der sinnlichen Fixierung zuzutreffen. Sylvia, die eine mehr als durchschnittliche Erfahrung mit Männern hatte, betrachtete Larry Crane als den besten und befriedigendsten Liebhaber, den sie je gehabt hatte.
Sie waren beide sehr leidenschaftlich und frei von jeglichen Hemmungen. Er schien wie geschaffen für sie, ob auf ihr, neben ihr oder unter ihr oder sonstwo bei ihr, wenn sie vögelten oder sexuelle Spiele trieben, besser als irgendein anderer Mann. Die Höhepunkte, die sie mit ihm und durch ihn erreichte, waren weitaus intensiver als jene bei anderen Männern.
Und sie hatte die Probe aufs Exempel gemacht, um ganz sicher zu gehen. Sie hatte ein wenig herumgeschlafen, nachdem ihre Affäre angefangen, und bevor sie ihren kurzen Höhepunkt erreicht hatte. Sie konnte nicht ableugnen, daß die Theorie der sinnlichen Fixierung plausibel war. Sie war fixiert. Die Hände und Zungen und Schwänze anderer Männer konnten nicht annähernd so wahnsinnige Lust in ihr erwecken wie Larry Crane.
Aber der erotische Hunger von Dr. Lawrence Crane konnte von keiner einzigen Frau gestillt werden, nicht einmal von einer kleinen, ausgewählten Gruppe von Frauen. Ihn gelüstete es nach Abwechslung — in der Qualität wie in der Quantität.
Und hier machte er seinen riesigen und beruflich vernichtenden Fehler.
Dr. Larry Crane war seinem Wesen nach unfähig, den „guten Gelegenheiten“ zu widerstehen, die sich jedem Psychiater fast tagtäglich bieten. Viele seiner Patienten waren attraktive junge Frauen, deren Probleme meist auf Mangel an sexueller Erfüllung zurückgingen. Ihre Ehemänner waren unerfahren oder unaufmerksam oder unfähig, ihre Erektion lange genug für einen Orgasmus ihrer Frau zu behalten.
Dr. Crane riet nicht nur vielen dieser Frauen, sexuelle Beziehungen außerhalb ihrer Ehe aufzunehmen, sondern er führte die Kur auch persönlich durch, wenn die Patientin einigermaßen attraktiv war.
Ein Gatte kam dahinter, daß seine Frau nicht nur mit ihrem Psychiater redete, wenn sie dreimal wöchentlich ihre fünfzigminütige Behandlung auf seiner Couch verbrachte. Der Mann war reich und hatte Einfluß. Er heuerte ein paar ausgekochte Privatdetektive an, die sich hinter Dr. Crane klemmten. In seiner Praxis und seiner Wohnung wurden elektronische Abhörgeräte und Infrarotkameras raffiniert versteckt.
Innerhalb einer Woche hatte der Mann mehr als genug Beweise, nicht nur, um sich von seiner Frau scheiden zu lassen, sondern auch um ein halbes Dutzend andere Männer mit Beweisen gegen ihre Frauen zu versorgen. Was noch schlimmer war, er brachte das ganze Beweismaterial vor die entsprechende Behörde. Es war ein überwältigender Beweis, daß Dr. Lawrence Crane seine Stellung als Arzt mißbrauchte, um seine weiblichen Patienten zu ermutigen — und oft zu veranlassen —, sich mit ihm in jeden erdenklichen Sexualakt einzulassen.
Die Abhörgeräte hatten ein paar unzweideutige Gespräche aufgezeichnet.
„Sagen Sie, Mrs. Davidson — oder haben