EM ist keine Meisterschaft, sondern ein auf vier Wochen beschränktes Turnier, bei dem man sich – wie bei einer WM – lieber auf Gewohntes und Simples verlässt. Dass 2016 auch die vier besten Gruppendritten ins Achtelfinale durften, verstärkte dies noch. Die Folgen dieses Modus konnte man erstmals bei der WM 1990 in Italien beobachten, einem schwachen und torarmen Turnier, bei dem beispielsweise in der Gruppe F von sechs Spielen fünf unentschieden endeten. Ein Team dieser Gruppe, Irland, erreichte mit vier Unentschieden plus einem Elfmeterschießen das Viertelfinale.
Auch 2016 in Frankreich agierte man abwartend; vor allem galt dies für die Vorrunde und Begegnungen mit technisch limitierten Teams. Schließlich konnten schon drei Punkte ein Weiterkommen bedeuten. EM-Finalist Portugal zog sieglos ins Achtelfinale ein – drei Remis reichten. Nordirland musste gegen Deutschland nur aufpassen, dass man nicht zu hoch verlor. Bei der nordirischen 0:1-Niederlage war der „Man of the Match“ ein technisch höchstens durchschnittlicher Torwart.
Dass Portugal das Finale erreichte und dieses gegen Frankreich auch noch gewann, mutete wie ein schlechter Witz an. Die Seleção verbuchte ihren ersten Sieg innerhalb der regulären Spielzeit erst im sechsten Spiel, dem Halbfinale. Auch dies war allerdings nicht neu, sondern passiert manchmal bei Turnieren, da sie eben keine Meisterschaften sind. Bei der WM 1990 kam Vize-Weltmeister Argentinien in sieben Spielen nur auf zwei Siege innerhalb der regulären Spielzeit. Allerdings stand die 2016er Finalpaarung Portugal gegen Frankreich auch für einen neuen Trend, der ebenso bei der folgenden WM zu beobachten war. Das Finale bestritten Teams, die keinen aufregenden Fußball spielten, sondern zurückhaltend, phasenweise gar langweilig agierten, aber einige absolute Topakteure in ihren Reihen hatten.
Die Kleinen waren unbequem und manchmal schwer zu bezwingen, weil sie sich auf die Defensivarbeit konzentrierten, um dann bei Gelegenheit zu kontern. Ein derartiges Konzept lässt sich auch mit einer Nationalmannschaft einüben, weil es wenig komplex ist. Auf dem Programm stehen dann Kettenbildung, Mannorientierung, Strafraumverteidigung – also eher sehr konventionelles Verteidigen. Nicht aber Abwehrpressing und Balleroberung. In Frankreich wurde somit vornehmlich reagiert und kaum agiert. Einige Teams standen nur tief und praktizierten Mannorientierung bis hin zur Bildung einer Sechser-Kette. Spannende Defensivkonzepte gab es kaum zu besichtigen. Solche Truppen machen es auch überlegenen Gegnern schwer. Mario Gomez: „Auffällig ist, dass es bei einer Endrunde nicht mehr diesen Gegner gibt, den man mit 5:0 aus dem Stadion schießt. Auch alle Außenseiter können diszipliniert verteidigen – und tun dies auch. Das erfordert Geduld bei den Favoriten.“
Dieser Eindruck wurde durch die Statistik bestätigt. Mehr „Kleine“ im Turnier bedeutete nicht, dass auch mehr Tore (geschossen von den „Großen“) fielen. In den 36 Vorrundenspielen gab es 69 Tore – macht 1,9 pro Spiel. 2012, als nur 16 Mannschaften qualifiziert waren (und damit auch weniger „Kleine“ als 2016), wurden 2,5 pro Spiel erzielt. Die „torschwächste“ Gruppe war im Übrigen die der Deutschen: In den sechs Spielen fielen nur sieben Tore – also 1,16 pro Spiel. Deutschland wurde mit 3:0 Toren Gruppensieger, gefolgt von Polen (2:0).
Die EM in Frankreich demonstrierte eindrucksvoll, wie sich die „Kleinen“ gegen die „Großen“ wehren können: Mit viel Defensive, meist höchst konventioneller Art. Das ist nicht schön, aber es gibt auch kein Gesetz, das schönen und offensivfreudigen Fußball vorschreibt. Für die „Kleinen“ geht es stets ums Überleben – und da ist jedes Mittel recht. Sich hinten reinzustellen und zu kontern, ist einfach zu trainieren, aber auch für technisch und spielerisch überlegene Mannschaften schwer zu bespielen. Stefan Reinartz, ehemaliger Bundesligaspieler und bekannt für die Konzeption des Analyseparameters „Packing“, kommentierte: „Es wundert mich fast, dass in der Bundesliga so wenige Mannschaften so spielen. Die EM hat gezeigt, dass der als unmodern verschriene Konterfußball erfolgversprechend ist.“ Man mochte dies bedauern. Man konnte dies aber auch so sehen wie Reinartz: „Die Großen sind im Vereinsfußball ja kaum noch zu schlagen. Wenn man dem eine defensive Kontertaktik entgegensetzen kann, finde ich das super.“ (Nach der EM gingen die „Kleinen“ auch in der Bundesliga dazu über …)
Aber die Chance auf ein eigenes Tor ist für diese Mannschaften komplett von Glück und Zufall abhängig. Bei der EM 2016 war das Konterspiel nur bei wenigen von ihnen (Wales, Island) wirklich durchdacht. Und wenn die „Kleinen“ das Spiel selber machen mussten, wurde es richtig schwierig. Das Achtelfinale Wales gegen Nordirland war deshalb auch die schlechteste Begegnung des Turniers.
Nicht viel falsch gemacht
In Frankreich war der Unterschied zwischen Deutschland, Italien, Spanien einerseits sowie England, Portugal, Belgien andererseits: Die ersten drei genannten Teams hatten eine Spielidee und Pläne, wie man mit viel Ballbesitz gegen extrem tiefstehende Gegner operieren kann (Spanien hatte allerdings nur einen Plan A, weshalb man gegen Italien ausschied). Hierfür bedarf es taktisch gut geschulter Spieler und individueller Qualität, die es aber richtig einzusetzen gilt. Deutschland besaß den Vorteil vieler Spieler, die durch die Schulen Guardiolas und Tuchels gegangen waren: Neuer, Boateng, Kimmich, Hummels, Kroos, Müller, Götze, Schweinsteiger. Spieler, die gelernt hatten, eine solche Herausforderung mithilfe eines Plans zu bewältigen. Hinzu kamen Hochbegabte wie Özil, Draxler und intelligente Spieler wie Hector und Khedira.
Trainer wie Pep Guardiola oder Thomas Tuchel denken sich jede Woche einen neuen, auf den Gegner bezogenen Plan aus, ohne die eigene Spielauffassung aus den Augen zu verlieren. Dies gilt natürlich auch für Löw, der ein extrem anspruchsvoller Trainer ist und sich wie Guardiola und Tuchel ständig auf der Suche nach neuen Wegen und mehr Flexibilität befindet. Löw, Guardiola und Tuchel pflegen ähnliche Fußballphilosophien – was Löws Anspruch, dass die Mannschaft wie eine Vereinsmannschaft funktioniert (einschließlich taktischer Flexibilität), entgegenkam.
Die Mannschaft, mit der Löw nach Frankreich reiste, war eine etwas andere als 2014. Wichtige Säulen wie Lahm und Klose waren nicht mehr dabei, dafür acht neue Spieler an Bord. Tatsächlich überraschte Löws Elf bis zum Halbfinale eher positiv. Angesichts der Ausfälle und einiger angeschlagener und überstrapazierter Spieler war sie nicht zwingend als Anwärter auf den Titel angetreten. Doch nach fünf Spielen hatte die Elf erst ein Gegentor kassiert – gegen Italien vom Elfmeterpunkt.
Wer in sechs Spielen plus einer Verlängerung nur ein Tor aus dem Spiel heraus kassiert (und zwei durch Elfmeter, bei denen das vorausgegangene Handspiel keine echte Torchance verhinderte) und zudem über weite Strecken das Spiel bestimmt, hat taktisch ziemlich viel richtig gemacht.
Aber im direkten Vergleich mit Frankreich musste man auch einräumen: Deutschland hatte wahnsinnig tolle Kombinationsspieler, die sich gerne in den Halbräumen bewegten und wunderbaren Fußball spielten, aber sie ähnelten sich zu sehr. Das erschwerte das Spiel im letzten Drittel. Und dies zeigte sich bereits in der Qualifikation zur EM 2016: Gegen die sehr defensiv auftretende Republik Irland reichte es in 180 Minuten nur zu einem Tor. Und in der Gesamtabrechnung hatte das DFB-Team nur fünf Tore mehr geschossen als die wenig torhungrigen Iren.
Defensive schlägt Offensive
Nicht nur Deutschland hatte in Frankreich Offensivprobleme. Nur 2,05 Tore pro Spiel bei dieser EM ließen darauf schließen, dass sich nicht nur die Deutschen darüber Gedanken machen mussten, wie man in Zukunft starke Abwehrreihen knackt. Die DFB-Elf kam in sechs Spielen bzw. 570 Minuten nur zu sieben Toren. Europameister Portugal kam in sieben Spielen bzw. 720 Minuten auch nur zu neun. Deutschland schoss alle 81 Minuten ein Tor, Portugal alle 80. Entscheidend war, dass Portugal in 330 Minuten K.o.-Fußball kein Tor mehr kassierte.
Viel komplizierter und anspruchsvoller als das Verteidigen ist das Einüben von Strategien gegen massive Abwehrreihen. Dass Spanien von 2008 bis 2012 die internationalen Wettbewerbe dominierte, war auch der Tatsache geschuldet, dass die Nationalspieler aus den Reihen des FC Barcelona sich Woche für Woche – nicht nur in der heimischen Liga, sondern auch in der Champions League – mit tiefstehenden Gegnern auseinandersetzen mussten. Und mit Pep Guardiola hatte Barça einen Trainer, der akribisch an dieser Herausforderung arbeitete. Xavi, Iniesta und Co. wussten, wie man einen im Strafraum geparkten Bus auseinandermontiert.
Die Situation erinnerte nun ein bisschen an die 1960er, als in Amsterdam mit dem „Totaalvoetbal“ die vielleicht bedeutendste taktische Revolution