vorbei. Die Toilette fand ich schnell und ich beschloss, einfach noch etwas länger sitzen zu bleiben. Ich hätte einiges dafür gegeben, wieder auf jemanden mit etwas Koks zu treffen. Aber so viel Glück hatte ich heute leider nicht.
Ich saß auf dem geschlossenen Klodeckel und überlegte, was ich nun tun sollte. Ich konnte nicht wieder zurück. Ich wollte nicht wieder zurück. Ich wollte die beiden nicht zusammen sehen. Was wäre, wenn sie sich an der Hand hielten, wenn sie sich küssten? Ich weiß nicht, ob ich das verkraftet würde. Wahrscheinlich würde ich auch noch das bisschen Verstand verlieren, was mir noch geblieben war.
»Entschuldigung, ist alles okay da drin?«
Ich erschrak und erhob mich reflexartig.
»Ja, alles okay.«
Ich trat aus der Kabine und schaute in die besorgten Augen einer jungen Frau.
»Ist dir nicht gut?«, fragte sie mich und zog die Augenbrauen eng zusammen. Ich musste ziemlich mitgenommen aussehen.
»Danke, es ist wirklich alles okay.«
»Dann ist ja gut ... Darf ich?« Sie lächelte verlegen und ging dann an mir vorbei in die Kabine, nachdem ich zur Seite gegangen war. Von wegen nicht schlechtgehen. Gut ging es mir mit Sicherheit nicht.
Und das schon seit Jahren.
Ich trat langsam aus der Damentoilette hinaus und trottete unentschlossen hin und her. Am Ende setzte ich mich einfach an die Bar. Ich bestellte einen Kaffee. Immerhin hatte ich Sebastian versprechen müssen, nüchtern zu bleiben. Ich lauschte der Band und stellte fest, dass die gar nicht mal schlecht waren. Wie hießen sie noch gleich? Ach ja, Chocolate Life. Sie spielten Popsongs, die ich aus dem Radio kannte. Von Coldplay bis hin zu Adele. Also eindeutig Mainstream. Aber für eine Hochzeit war das, glaube ich, genau das Richtige. Da wäre Punk ja auch eher unangebracht, oder? Welche Musik würde ich auf meiner Hochzeit hören wollen? Auf jeden Fall keinen Schlager und auch keine Mallorca-Ballermann-Mucke. Ich lachte über mich selbst. Das war momentan so unglaublich weit weg. Wahrscheinlicher war da noch, dass ich hier und jetzt als Topmodel entdeckt werde oder Opfer eines Terroranschlags wurde. Ich schnaubte.
Was würde ich nun für eine Line Koks geben, oder meinetwegen etwas Acid oder einen kleinen Joint. Klitzeklein nur. Ich schloss die Augen und kniff mir mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken. Ich bekam Kopfschmerzen.
»Hey, du bist nicht mehr zurückgekommen.«
Jan.
Jan. Jan. JanJanJanJanJanJan. Ich konnte nicht aufhören, seinen Namen zu denken.
Ich öffnete die Augen und lächelte ihn gequält an. Nur nicht anmerken lassen, was für ein Wrack hier vor ihm saß. Alles okay, Nora, dir geht‘s gut. Reiß dich verdammt noch mal zusammen!
Jan setzte sich auf den freien Barhocker neben mir und schaute mich an.
»Wie geht es dir?« Es klang ehrlich interessiert.
»Gut.« Schlecht!
»Schön.« Er schwieg kurz und bestellte etwas beim Barkeeper. »Erzähl mal, was hast du die letzten Jahre so getrieben?«
»Hauptsächlich studiert. Ich habe jetzt einen Bachelor in Grafikdesign.« Ich habe mich mit einer Menge verbotener Substanzen betäubt und versucht, dich zu vergessen, und dir fällt nichts Besseres ein, als dich einfach so neben mich zu setzen und mich anzuquatschen? Du gefühlloser Idiot.
»Beeindruckend. Dann hat ja alles gut geklappt.« Wir schauten uns lange in die Augen und ich versuchte, in ihnen irgendetwas zu finden. Ein Gefühl. Bereuen? Sehnsucht? Liebe? Ich fand nichts.
»Ja, alles gut gelaufen«, sagte ich leise und schaute wieder zur Bühne vor uns. Sebastian, wo bist du nur? Rette mich! Wie konnte er mich nur mit ihm hier alleine lassen? Ich würde ihm später wohl oder übel den Hals umdrehen müssen.
»Und sonst so?« Jan riss mich aus meinen Mordplänen und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.
Wieder schauten wir uns an. Wo war eigentlich seine Freundin? Und wo war Sebastian, verdammt noch mal? Ich wollte weg. Das hier tat mir ganz und gar nicht gut. Mein Herz raste auf ungesunde Art und Weise. Ich hatte den Drang zu weinen und biss mir auf die Innenseite meiner Wange, um mich vom Schmerz in meiner Brust abzulenken. Was sollte das hier? Warum hatte er sich nicht verändert? Er sah noch genauso aus wie vor vier Jahren. Er lächelte noch genauso. Nichts hatte sich verändert. Das war Jan. Mein Jan. Verdammt!
»Hast du einen Freund?«
Bin ich tot? Die Frage hatte mir nämlich gerade einen schmerzhaften Stich mitten ins Herz versetzt. Ein Messer in der Brust musste sich in etwa so anfühlen. Ich schaute auf meine Füße und schaffte es wahrlich nicht mehr, ein Lächeln vorzutäuschen. Mein Gesicht fühlte sich verkrampft an, genau wie meine Hände, die sich verzweifelt ineinander krallten. Meine Fingernägel bohrten sich in meine Handrücken und hinterließen tiefe Halbmonde. Ich schaute nicht auf, als ich mit dem Kopf schüttelte.
»Da seid ihr ja.«
Danke, Sebastian. DANKE.
Und beim nächsten Mal bitte fünf Minuten eher!
Marmelade
Ich verließ mein Schlafzimmer in Jogginganzug und mit zerzausten Haaren. Die Schminke, die Sebastian gestern in liebevoller Kleinstarbeit in mein Gesicht gepinselt hatte, war verwischt und klebte zur Hälfte auf meinem Kissen. Ich sah aus wie ein Kunstwerk von Picasso. Grotesk verzerrt.
Ich hörte Geschirrklappern in der Küche, ignorierte es aber erst mal. Zuerst duschen!
Ich betrat das Badezimmer und erschrak, als meine nackten Füße die kalten Fliesen berührten. Schnell entledigte ich mich meiner Klamotten und genoss es wenige Sekunden später umso mehr, als ich das warme Wasser auf meinem Haupt spürte. Langsam wanderte es meinen Körper hinunter und als es meine Füße erreichte, entfuhr mir ein genießerischer Seufzer.
Aber selbst als mir warm wurde, konnte ich die Eiseskälte in mir drin nicht vertreiben. Mein Herz war schon seit Jahren gebrochen, aber gestern hatte man auf den Einzelteilen Samba getanzt. Warum genau wollte der Zinnmann aus Der Zauberer von Oz ein Herz? Es ging ihm besser ohne.
»Verdammt!« Ich boxte gegen die Plastikwand der Duschkabine. Es krachte laut.
»Alles okay bei dir?«, hörte ich Sebastians Stimme von draußen rufen.
»Jaja.« Immer diese übertriebene Sorge. Ich würde mir schon nicht die Pulsadern aufschneiden. Hatte ich auch die letzten Jahre nicht getan.
Nachdem ich meinen Körper abgetrocknet und meine Haare etwas angeföhnt hatte, schlüpfte ich wieder in den Jogginganzug und verließ das Badezimmer. In der Küche saß Sebastian und klopfte auf den Stuhl neben sich. Ich blieb stehen und sah mich um. Auf dem Esstisch standen unzählige Gläser, dazu Unmengen an Schleifchen, Perlen, Glitzerpulver in verschiedenen Farben und noch anderes, was ich nicht so recht zuordnen konnte.
»Was ist hier los? Hast du einen Kindergarten ausgeraubt?«
Ich hörte ein Schnauben aus dem Wohnzimmer und erblickte Hiro auf der Couch.
»Bitte, Nora, hilf Sebastian! Sonst muss ich es später ausbaden.«
Sebastian warf Hiro, der sich auf der Couch nun umgedreht hatte und mit dem Rücken zu uns lag, einen bösen Blick zu.
»Du willst mir ja nicht helfen, also sei wenigstens still!«
Hiro hob abwehrend beide Hände und drehte den Kopf, um mich flehend anzusehen. Ich seufzte und schlurfte dann zu Sebastian hinüber. In der ganzen Küche stapelten sich körbeweise Zwetschgen, Äpfel und ...
»Was sind das für seltsame Dinger?« Sebastian schaute mich schockiert an.
»Das sind Quitten.« Ach, so sahen die also aus. Ich hatte noch nie zuvor welche gesehen, geschweige denn probiert.
»Was wird das hier, wenn es fertig ist?«
»Das