Gustav Weil

Die phantastische Welt der Literatur: 90+ Romane, Märchen & Zauberhafte Geschichten


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der König und sein Volk diese Steine sahen, waren sie alle des größten Erstaunens voll, denn ein jeder mußte einsehen, daß alle Menschen in der Welt nicht im Stande wären, einen dieser Steine von der Stelle zu bewegen; wußte auch niemand zu erraten, wie Merlin es angefangen habe, sie zusammen zu bringen. Merlin sprach zum König: »Sire, so wie die Steine hier liegen, dienen sie zu nichts, sie müssen geordnet und über einander gesetzt werden.« – »Ei, wer sollte dies wohl tun«, entgegnete der König, »Gott allein kann ein solches Werk zu Stande bringen.« – »Nun, so entferne Dich«, sagte Merlin, »und ich will dieses Werk vollenden, so wie ich es unternommen.« Merlin begann nun das Werk, welches niemals wird vergessen werden. Diese Steine sind noch jetzt, so wie Merlin sie ordnete, und sie werden so bleiben, so lange die Welt stehen wird. Es war ein vortreffliches kunstreiches Werk, worüber die ganze Welt sich verwunderte.

      Uterpendragon liebte den Merlin um dieses Werkes willen noch weit mehr als sonst, behielt ihn lange Zeit an seinem Hof und tat nichts ohne seinen Rat.

      XX. Über die dritte Tafelrunde in Wales, an der fünfzig Ritter teilnahmen und ein Platz leer blieb

       Inhaltsverzeichnis

      Eines Tages kam Merlin zum König und sprach: »Mein König, wisse, nach der Kreuzigung unseres Heilands kam ein frommer Ritter, mit Namen Joseph von Arimathia, kaufte den Leichnam Christi von Pilatus und ließ ihn begraben. Dieser Ritter liebte Christus so sehr, daß die Juden ihn deshalb verfolgten und ihm viel Leid antaten. Nachdem Christus auferstanden, zog Joseph von Arimathia nach einer Wüste, nebst den meisten von seiner Familie, und mehreren anderen Menschen. Dort litten sie viel Hungersnot, so daß viele von ihnen Hungers starben. Da murrten sie gegen den Ritter, der ihr Meister war. Der Ritter sah die Not seines Volks und betete voll Inbrunst zu unserm Herrn Christus, daß es ihm gefiele, dieser Hungersnot ein Ende zu machen. Unser Herr befahl ihm darauf eine Tafel zu errichten, so wie die war, an welcher er mit den Aposteln das Abendmahl genoß. Diese Tafel solle er wohl ausschmücken, und mit weißen, feinen Tüchern bedecken; darauf solle er einen goldenen Kelch stellen, den er ihm selber sandte; und daß er dieses Gefäß wohl bedecke und in Acht nehme. Wisse ferner, mein König, daß dieser Kelch von Gott gesandt, die Gemeinschaft der Guten und der Bösen bedeutet; die Guten aber, welche an dieser Tafel zugelassen wurden, erhielten die Erfüllung aller ihrer Wünsche. Ein Platz blieb immer leer an dieser Tafel, das bedeutete den Judas, der unsern Herrn verriet und sich mit den Aposteln zum Abendmahl setzte. Und als unser Heiland sagte: ›Wahrlich, ich sage Euch, einer unter Euch wird mich verraten; der mit der Hand mit mir in die Schüssel taucht, der wird mich verraten‹, stand Judas auf von der Tafel, schämte sich und ging hinaus. Und die Stelle an der Tafel blieb leer, bis Christus einen andern, mit Namen Matthias, hinsetzen ließ. So mußte auch ein Platz an Josephs von Arimathia Tafel leer bleiben.

      Diese Tafel wurde von allen denen, welche dazu gelassen wurden, sehr in Ehren gehalten, und sie nannten sie Gral. Nach ihr wurde noch eine ähnliche Tafel errichtet; willst Du mir folgen, mein König, so errichte Du die dritte im Namen der Dreifaltigkeit. Ich will Dir in diesem Werk helfen; es wird ein Werk werden, wofür Du die Gnade Gottes Dir erwirbst, und alle diejenigen, die an der Tafel Platz nehmen, läßt Du daran Teil nehmen. Jenes Gefäß aber und seine Hüter sind gegen den Occident hingezogen; die Hüter wissen aber jetzt selber nicht mehr, wo es eigentlich hingeraten ist, sie sind ihm nur in jene Gegend nachgezogen. Du aber tue so wie ich Dir sagte, Du wirst Dich dessen noch einst erfreuen.«

      Uterpendragon erwiderte: »Mit Freuden will ich tun, was Du mir rätst, denn Deine Worte sind Weisheit; aber ich selber bin nicht imstande, solches Werk einzurichten, sondern Dir, Merlin, trage ich die Sache auf, richte in meinem Namen alles so ein, wie es sein muß.« – »Und wo«, fragte Merlin, »befiehlst Du, daß diese dritte Tafel errichtet werde?« – »Wo es Dir beliebt und wo Gott der Herr will, daß sie errichtet werde.« – »Nun so will ich sie zu Kardueil (Carduel) in Wales errichten. Laß Dein Volk sich zum Pfingstfest dort versammeln und halte dann allda offenen Hof, ich aber werde voran gehen, und die Tafel vorher errichten. Gib mir Leute, damit sie tun, was ich ihnen sage, und wenn Du verlangst, so werde ich denjenigen, die an ihr sitzen sollen, Platz anweisen.«

      Am Pfingstfest, als der König und alle seine Barone und die edlen Damen und Fräulein seines Reichs nach Kardueil kamen, fanden sie die Tafel von Merlin schon errichtet. Der König hielt offenen Hof für alle Edlen und Ritter und für sein ganzes Volk, dann fragte er den Merlin, wer nun an dieser Tafel sitzen solle. »Morgen«, antwortete Merlin, »werde ich fünfzig Ritter erwählen, die an ihr sitzen sollen; niemals werden diese wieder fort in ihr Land oder in ihr Haus zurückgehen wollen.«

      Des andern Tages wurden fünfzig Ritter erwählt und Merlin bat sie, sich an die Tafel zu setzen, zu essen und zu trinken und fröhlich zu sein, welche Bitte sie auch gern erfüllten. Eine Stelle wurde leer gelassen, niemand aber als Merlin wußte warum. Nachdem sie während acht Tagen an dieser Tafel gesessen, und fröhlich und gutes Muts mit Essen und Trinken gewesen waren und der König den edlen Botschaftern nebst allen Damen und Fräulein reiche Geschenke gegeben, fragte er die würdigen Ritter der Tafel, wie sie sich befänden, und wie ihnen zu Mute sei. »Sire«, sagten sie, »wir können nimmermehr diesen Ort verlassen, und nie soll diese Tafel ohne wenigstens drei von uns sein. Wir wollen unsre Frauen und unsre Kinder herkommen lassen und hier nach des Herrn Willen leben.« – »Ist dies Euer aller Wille?« fragte der König; und sie bejahten es. »Wir sind«, setzten sie hinzu, »alle selber verwundert, wie dies zugehen mag, denn nie haben wir zuvor uns gesehen, oder uns gekannt, und doch lieben wir uns jetzt einander, wie Vater und Sohn einander lieben; nie können wir von einander scheiden, wenn der Tod uns nicht scheidet.«

      Der König und alle, die zugegen waren und dies hörten, waren voller Erstaunen über dieses Wunder; auch befahl der König hierauf, daß ihnen alle Ehre widerfahre, und daß man ihnen gehorche und sie so bediene wie den König selber.

      So ward diese Tafel von Uterpendragon nach dem Willen und nach dem Rat Merlins errichtet.

      »Wohl hast Du mir Wahrheit gesagt«, sprach der König zu Merlin, »und wohl sehe ich jetzt ein, daß es Gottes Wille ist, diese Tafel zu errichten. Jetzt aber bitte ich Dich, mir zu sagen, wer auf den leeren Platz kommen soll?« – »Ich sage Dir, daß er zu Deinen Lebzeiten nicht besetzt wird«, erwiderte Merlin, »doch ist der noch nicht geboren, der auf diesem Platze sitzen wird. Zu der Zeit des Königs, welcher nach Dir regieren wird, soll er besetzt werden; noch weiß sein Erzeuger nichts davon, ihn erzeugt zu haben. Jetzt ersuche ich Dich noch, so lange Du lebst, alle Deine großen Feste an diesem Orte zu feiern, auch dreimal im Jahr offenen Hof hier zu halten.« Als der König ihm dies zu halten geschworen, sprach Merlin: »Jetzt muß ich Dich verlassen, Du wirst mich in langer Zeit nicht wieder sehen.« – »Und warum gehst Du fort«? fragte der König, »wo willst Du hingehen? wirst Du nicht jedesmal hier sein, wenn ich Hof halte?« – »Nein, ich werde nicht zugegen sein, denn ich will, daß die Leute an das glauben, was sie sehen werden, und nicht, daß ich die Dinge, die geschehen sollen, verrichte.«

      Merlin empfahl sich dem König und ging zum Meister Blasius nach Northumberland, dem er alles sagte, was geschehen war, der es dann in dieses Buch niederschrieb. Zwei Jahre blieb Merlin bei dem Meister Blasius, ohne daß Uterpendragon etwas von ihm hörte.

      XXI. Wie ein übler Ritter den leeren Platz besetzen wollte und was dann mit ihm geschah

       Inhaltsverzeichnis

      Einmal, als der König und sein Hof zu Kardueil waren, und die Ritter an der Tafel saßen, kam einer der Großen des Reichs, der dem Merlin im Herzen übel wollte, zum König. »Sire«, fing er an, »billig muß ich mich wundern, daß Ihr den leeren Platz an der Tafel nicht besetzen laßt, damit sie vollständig sei.« – »Merlin hat mir gesagt«, antwortete der König, »daß dieser Platz nicht während meiner Lebzeit besetzt werden kann, sondern daß der noch geboren werden soll, der darauf sitzen wird.« Da fing der falsche verräterische Mann an zu lachen und sprach: »Sire, glaubt Ihr wohl, daß es nach Euch Leute geben wird,