wilden See schwamm der mutige Hampelmann, als die Nacht hereinbrach. Haushoch peitschte der Sturm die donnernden Wogen. Ein furchtbares Gewitter tobte am Himmel. In einem Augenblicke glänzten die schäumenden Wellenberge taghell erleuchtet, im nächsten schon hüllten sich Wasser und Luft in undurchdringliche Dunkelheit.
Die Hoffnung, den Vater zu retten, gab Bengele ungewöhnliche Kraft. Die ganze Nacht kämpfte er mit den rasenden Wellen. In der Morgendämmerung zeigte sich ein Streifen Land; es war eine Insel. Das Hampelchen strengte alle Kräfte an, um ans Ufer zu kommen; immer wieder schlugen ihn die Wogen zurück und spielten mit dem Holzmännlein wie mit einem Strohhalm. Endlich wälzte sich eine Sturzwelle vom Meere her und warf den kleinen Schwimmer wuchtig in den Sand des Ufers.
Alle Rippen krachten dem Hampelmann; aber er war froh, wieder auf festem Boden zu sein, und meinte:
»Ich bin noch einmal gut davongekommen.«
Unterdessen war der Himmel wieder heiter geworden; die Sonne ging auf in ihrem vollen Glanze, und das Meer wurde ruhig und glatt wie ein Spiegel.
Unser Hampelmann legte seine Kleider zum Trocknen in die Sonne und schaute sich nach allen Seiten um, ob er nicht den Kahn mit seinem Vater erspähen könnte. Es war nichts zu sehen als Himmel und Meer, Meer und Himmel. Weit draußen fuhr ein Segelschiff vorbei; es schien so klein wie ein Fischerkahn.
Bengele ging am Strand entlang und dachte: »Wenn ich nur wüßte, wie dieses Land heißt und ob hier ordentliche Menschen wohnen, nicht etwa Räuber, die mich wieder an einen Baum hängen. Könnt' ich nur jemand fragen!«
Er wurde traurig, weil er glaubte, ganz allein wie Robinson auf unbewohntem Lande zu sein, und fing an zu weinen. Da sah er nah am Ufer einen großen Fisch vorbeischwimmen; er zog ruhig seines Weges und streckte den Kopf halb
aus dem Wasser. Bengele wußte nicht, wie er heiße, und rief:
»Heh! Herr Fisch, gestatte eine Frage!«
»Auch zwei, wenn's beliebt«, erwiderte der Fisch.
Es war ein Delphin mit feinem Anstand; solcher gibt es nur wenige im Meere.
»Bitte, wolltest du mir sagen, ob man auf dieser Insel etwas zu essen haben kann, ohne daß man Angst haben muß, selbst gefressen zu werden?«
»Sei ohne Furcht! Es wohnen gute Leute hier«, sagte der Delphin. »Der Weg zum Städtchen ist allerdings ein bißchen weit.«
»Welchen Weg muß ich einschlagen?«
»Nimm den Fußweg links und gehe stets geradeaus! Du kannst gar nicht verirren.«
»Bitte, noch eine Frage! Du wanderst ständig durch die Straßen des Meeres; hast du vielleicht einen Kahn gesehen und meinen Vater drin?«
»Wer ist dein Vater?«
»Er ist der beste von allen Vätern, und ich bin der ungezogenste Sohn.«
»Bei dem Sturm in dieser Nacht«, sagte der Delphin, »wird der Kahn untergegangen sein.«
»Und mein Vater?«
»Vielleicht hat ihn der große Hai verschlungen, der seit einiger Zeit Tod und Verderben in unsere Fluten bringt.«
»Wie groß ist dieser Hai?« fragte Bengele und zitterte schon.
»Unheimlich groß!« antwortete der Delphin. »Du kannst dir eine Vorstellung von ihm machen, wenn ich dir sage, daß er größer ist als ein fünfstöckiges Haus. Sein Maul ist so weit, daß ein Eisenbahnzug mitsamt der dampfenden Maschine bequem hineinfahren könnte.«
»Du lieber Himmel!« entsetzte sich der Hampelmann; doch stellte er sich gleich wieder ruhig und sprach:
»Adieu, Herr Fisch! – Bitte sehr um Entschuldigung, wenn ich gestört habe. – Vielen Dank für deine Freundlichkeit.«
Gleich darauf schlug Bengele den Fußweg ein. Bei jedem Geräusch drehte er sich um und hatte Angst, daß der fünfstöckige Hai mit dem Eisenbahnzuge im Maule nach ihm schnappe.
Nach einer Stunde Weges kam der Kleine zu wohlbestellten Feldern. Der Kirchturm und die Dächer eines Städtchens, das von Wiesen umrahmt hinter Obstbäumen versteckt lag, schauten von ferne herüber. – Bengele traf einen Mann, der auf dem Felde neben der Straße arbeitete.
»Bitte schön«, fragte er, »wie heißt das Städtchen dort?«
»Das ist Fleißigenstadt«, sagte der Bauersmann; »geh nur hinein, hier kannst du Arbeit finden.«
Bengele rümpfte die Nase und ging weiter. Bald begegnete er mehr Leuten. Emsig wie Ameisen liefen alle ihren Geschäften nach; alle hatten etwas zu tun; Faulenzer gab es da keine. Der leichtsinnige Hampelmann blieb stehen und sah sich das Getriebe an. Es gefiel ihm nicht und er dachte:
»Das ist keine Gegend für mich, so viel ist mir von vornherein schon klar. Zum Arbeiten bin ich nicht geboren.«
Aber der Hunger quälte ihn sehr; seit vierundzwanzig Stunden hatte er nichts mehr gegessen; nicht einmal eine Linse hatte er sich im Taubenschlage eingesteckt. – Was tun? – Er mußte entweder Arbeit suchen oder betteln.
Zum Betteln schämte er sich, denn sein Vater hatte ihm stets gesagt: »Wer arbeiten kann, soll sich sein Brot verdienen; wer aus Faulheit Hunger leidet, verdient kein Mitleid.«
Indes kam keuchend und schwitzend ein Mann die Straße daher, der zwei Gemüsekarren zog.
Bengele schaute ihn an und glaubte, daß es ein guter Mensch sei. Er ging auf ihn zu, senkte verschämt den Blick und sagte zaghaft:
»Gebt mir doch, bitte, drei Pfennig, daß ich mir einen Weck kaufen kann; ich muß sonst verhungern.«
»Bloß drei Pfennig!« entgegnete der Mann, »zwanzig will ich dir geben, wenn du mir die zwei Karren nach Hause schieben hilfst.«
Halb beleidigt sagte der Hampelmann: »Ich bin sehr erstaunt über Euer Angebot; aber ich habe noch nie im Leben den Zugochsen gemacht und Karren gezogen.«
»Glückliches Herrchen«, sprach der Gemüsemann, »wenn du trotzdem nicht Hungers sterben willst, so schneide dir zum Frühstück zwei gute Schnitten von deinem Hochmut herunter! Aber Paß auf, daß du kein Magendrücken bekommst.«
Bald darauf kam ein Maurer des Weges, der auf der Achsel einen Kübel Mörtel trug.
»Seid so gut, lieber Mann, und gebt einem armen hungernden Knaben doch drei Pfennig zu einem Stückchen Brot!«
»Mit Vergnügen!« sagte der Maurer; »komm nur mit mir und trage mir einige Zeit Mörtel, dann gebe ich dir fünfzig Pfennig.«
»Ja, aber der Mörtel ist schwer!« entgegnete der Hampelmann, »und ich will mich nicht schmutzig machen.«
»Dann, mein Lieber, gähne dich ruhig zu Tode! Adieu!«
Mindestens zwanzig andere Leute gingen im Verlaufe einer halben Stunde an Bengele vorbei; alle sprach er um eine Gabe an, aber alle sagten:
»Schäme dich doch, so faul auf der Straße herumzulungern; arbeite und verdiene dein Brot!«
Am Stadttor kam eine junge Frau, die in jeder Hand einen Krug Wasser trug.
»Bitte, gute Frau«, redete Bengele sie an, »erlaubt mir doch, einen Schluck Wasser zu trinken!« Er hatte einen brennenden Durst.
Die Frau sagte:
»Trinke nur, mein Kind!« und stellte die Gefäße auf den Boden.
Bengele trank aus dem Krug in vollen Zügen. Als er seinen Durst gefüllt hatte, wischte er sich den Mund ab und sagte:
»Der Durst wäre nun weg! – Aber der Hunger!«
Die gute Frau hörte es und sagte: