Susanne Picard

Elfenzeit 7: Sinenomen


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weit geschnittene Kleidung. Die Häuser, die rechts und links von ihnen aufragten, waren aus Sandstein und Holz gebaut worden. Kein Einziges sah neu aus. Alles wirkte alt, von dem Kopfsteinpflaster, in das die Räder der Handelskarren tiefe Fugen gegraben hatten bis hin zu Holzbalken, die Vordächer kleiner Stände stützten und vom Sand so glatt geschliffen worden waren, dass Nadja glaubte, ihre Fingerspitzen glitten über Glas.

      »Wie alt ist Las’wogg?«, fragte sie Altair, als sie den geschäftigen Teil der Stadt hinter sich ließen und es in den Gassen ruhiger wurde.

      »Niemand weiß es. Bevor der Schmied uns verließ, gab es keine Zeit. Wir waren unsterblich. Wir säten nicht, wir ernteten nicht, es gab keine Jahreszeiten. Warum also hätten wir uns um die Jahre kümmern sollen, die vergingen?«

      »Aber das hat sich geändert?«

      Artair hob die Schultern. »So wie alles sich geändert hat. Wenn ein Leben endlich wird, möchte man die Zeit zählen, die vergangen ist und die schätzen, die man noch hat. Ich weiß nicht genau, warum.«

      Er räusperte sich. »Wie dem auch sei, laut der Aussagen unserer Priester, möge der Schmied ihnen Weisheit und Kraft geben, leben wir im Jahr Zehn der Vertreibung.«

      »Vertreibung?«, fragte Anne.

      »Aus dem Paradies.« Robert gab die Antwort. Er wirkte traurig. Zum ersten Mal, seit sie in diesem Land angekommen waren, schien ihn etwas wirklich zu berühren.

      Artair nickte.

      Sie ließen die Gassen hinter sich und betraten einen weiten, großzügig angelegten Platz. In der Mitte stand ein Springbrunnen groß wie ein Haus. Er bestand aus Steinfiguren, die im Reigen um einen Hammer tanzten, aus dem früher einmal wohl Wasser geflossen war. Doch jetzt war das Becken voller Sand. Die Figuren standen bis zu den Knien darin.

      Häuser säumten den Platz. Ihre Fenster waren zugemauert, Soldaten standen vor den Türen. Artair ging an ihnen vorbei und nickte knapp, als sie sich verbeugten. »Hier warten die Gefangenen auf ihre Verurteilung«, sagte er, als würde er Nadjas Frage erahnen. »Ketzer, Besessene, Mörder, Spione, Flammenritter, die zu feige waren, in ihr Schwert zu fallen, als sie besiegt wurden. Früher einmal lebten hier die Händler der Stadt. Sie verkauften ihre Waren auf dem Platz, aber sie verlegten ihre Stände in die Gassen, als die Vertreibung begann. Niemand lebt gern im Schatten des Todes.«

      Nadja verstand im ersten Moment nicht, was er meinte, doch dann folgte sie seinem Blick zur anderen Seite des Platzes – und erstarrte. Mehr als ein Dutzend Galgen standen nebeneinander an einer Mauer. Leichen schwangen im Wind langsam hin und her. Ihre Köpfe waren unter Säcken verborgen. Abgebrannte Scheiterhaufen umgeben sie. Über ihnen hingen Käfige aus Eisen, in denen verkohlte, von der Hitze des Feuers zusammengekrümmte Tote lagen. Eine Frau stand an einem Pranger. Ihr kahlgeschorener Kopf war gesenkt. Sie rührte sich nicht, obwohl Krähenvögel um sie herum flatterten. Nadja wusste nicht, ob sie noch lebte.

      Sie zuckte zusammen, als Robert ihren Arm berührte. Seine Hand war kühl. »Sind wir sicher, dass wir auf der richtigen Seite stehen?«, fragte er leise.

      Sie ging nicht darauf ein. Der Anblick der Leichen verstörte und erschreckte sie. Ein Soldat ging gerade unter ihnen hindurch, unbeteiligt, einen langen Speer auf die Schulter gestützt. Er schien sie nicht einmal wahrzunehmen.

      »Kommt«, sagte Artair in die Stille hinein. »Ich zeige euch eure Unterkunft.«

      Nadja wäre am liebsten davongelaufen. Die Häuser mit ihren zugemauerten Fenstern und die hohen Mauern, die Galgen, Scheiterhaufen und Käfige, alles erdrückte sie. Sogar die Luft war stickig, doch Nadja zwang sich weiterzugehen. Der Gedanke an Talamh half ihr dabei.

      Artair führte sie um eine Ecke des Platzes herum und blieb stehen. »Hier lebe ich«, sagte er.

      Sie standen vor einem Schloss. Vier Stockwerke hoch ragte es vor ihnen empor. Kleine Türme, Erker und Spitzen, die zu Kirchtürmen zu gehören schienen, verzierten die Fassade. Edelsteine blitzten und glitzerten in ihnen, Fensterrahmen erstrahlten golden in der Sonne. Eine breite Marmortreppe führte zu einer edelsteinbesetzten, offenstehenden Tür. Erst auf den zweiten Blick sah Nadja, dass ein Teil des Dachs eingestürzt und die Fassade voll tiefer Risse war.

      Soldaten verneigten sich, als sie Artair sahen. Einer von ihnen, ein dicklicher, junger Elf, lief ihm entgegen.

      »Priester Dubhagan erwartet Euch im Audienzzimmer, Statthalter«, sagte er nach einer zweiten, linkischen Verbeugung. »Er –«

      »… möchte wissen, was Ihr Euch dabei gedacht habt«, sagte eine Stimme. Ein Mann stand im Eingang. Seine schwarze, verdreckte Robe wehte im Wind. Er war dürr und hatte eine ledrige, faltige Haut. Verfilztes, graublondes Haar hing ihm ins Gesicht, ging nahtlos in einen ebenso verfilzten Bart über. Als er näher kam, bemerkte Nadja, dass er stank.

      »Meine Gedanken gehen nur mich und den Schmied etwas an, Priester.« Artair klang steif. Er wollte an Dubhagan vorbeigehen, doch der gab die Tür nicht frei.

      »Wer ist da bei Euch?«, fragte er. Seine grünen Augen musterten Nadja.

      »Pilger aus dem Norden. Ich habe sie eingeladen, sich ein paar Tage bei uns auszuruhen.« Artair machte einen weiteren Schritt auf die Tür zu. Er war größer als der Priester und wirkte in seiner Rüstung bedrohlich. »Gibt es sonst noch etwas?«

      »Aus dem Norden, ja?« Dubhagans Blick glitt zu Robert und Anne, dann wieder zurück zu Nadja. Zögernd gab er den Weg frei. »Und Ihr fandet sie, als Ihr allein durch die Ebene rittet, obwohl Eure Untertanen Euch angefleht hatten, das zu unterlassen und obwohl der Schmied es nicht schätzt, wenn seine Werkzeuge sich unnötig in Gefahr begeben.«

      »So ist es.« Artair ging an ihm vorbei. Nadja hielt den Atem an, als sie ihm folgte, in eine Halle hinein, von der Treppen und Gänge in andere Bereiche des Schlosses führten.

      »Wäret Ihr von niederer Geburt, würde ich glauben, die Flammenritter hätten Euch verhext und zur Unvorsicht gezwungen«, rief Dubhagan ihnen hinterher. »Ich würde einen Exorzisten kommen lassen.«

      »Aber ich bin nicht von niederer Geburt«, antwortete Artair, ohne sich umzudrehen. Nadja hörte einen Hauch von Unsicherheit in seiner Stimme.

      Sie bogen in einen Gang ab, der von Öllampen erhellt wurde. Die Wände bestanden aus dunklem Holz. Es gab keine Fenster. Artair öffnete eine Tür und blieb im Rahmen stehen. Der Raum hinter ihm wurde von einem breiten Bett beherrscht. Teppiche bedeckten Fußboden und Wände.

      »Redet nicht mit Dubhagan«, sagte der Statthalter. »Wenn er euch etwas fragt, antwortet ausweichend oder am besten gar nicht.«

      »Wer ist er?«

      »Der Hohepriester von Las’wogg.« Artair fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln in seinem Gesicht. »Er und die anderen Priester geben sich ganz dem Schmied hin. Sie nehmen nur das, was er ihnen zukommen lässt. Sie essen, wenn ihnen ein Apfel vor die Füße fällt, trinken, wenn ein Bach auf ihrem Weg liegt, waschen sich, wenn es regnet, und so weiter.« Er verzog das Gesicht. »Leider regnet es nur noch selten.«

      Nadja lächelte unwillkürlich.

      »Um ehrlich zu sein, haben wir früher über die Priester gelacht«, fuhr Artair fort. »Sie sagten, sie seien die Einzigen, zu denen der Schmied persönlich spräche und dass wir eines Tages unsere Völlerei und unseren Reichtum bereuen würden. Seit der Vertreibung lacht niemand mehr. Der Schmied, der alle anderen verlassen hat, spricht noch zu ihnen. Was sie sagen, ist der Wille des Schmieds.«

      »Glaubst du das?«, fragte Robert.

      Artair antwortete nicht. Er trat zurück in den Gang. »Das ist der Gästetrakt. Die Zimmer sind alle gleich. Nehmt euch so viele, wie ihr möchtet. Ich werde jemanden zu euch schicken, wenn das Essen fertig ist.«

      »Danke für deine Hilfe«, sagte Nadja. »Wir stehen in deiner Schuld.«

      »Ja, das tut ihr.« Artair lächelte, aber es klang nicht wie ein Witz.

      »Er will etwas von uns«, sagte Anne, als der Statthalter sie allein