Beschäftigt mit den Gedanken an die weitere Behandlung hatten die beiden Ärzte nicht bemerkt, dass Milan Aydin seinen Rollstuhl an den Tisch manövriert hatte.
Katharina Linhardt erschrak so sehr, dass sie sich verschluckte. Sie hustete, bis ihr die Tränen kamen.
»Müssen Sie sich so anschleichen?«, krächzte sie, als sie wieder Luft bekam.
Milan Aydin warf den Kopf in den Nacken und lachte ein bisschen zu laut.
»Ich habe ja schon alles Mögliche von Frauen zu hören bekommen. Aber dass ich mich anschleiche …« Immer noch lachend schüttelte er den Kopf. »Diesen Vorwurf hat mir noch keine gemacht.«
»Einmal ist immer das erste Mal.« Katha beruhigte ihre Kehle mit einem Schluck Kaffee.
Diese Gelegenheit nutzte Dr. Norden.
»Sagen Sie bloß, Sie hegen eine heimliche Vorliebe für die Kollegin Lekutat?«
Es hatte ein Scherz sein sollen. Doch Milan verging das Lachen.
»Christine wollte mit mir zum Mittagessen gehen, und ich habe ihr einen Korb gegeben. Vielleicht ist sie deshalb …« Der Rest des Satzes schwebte unausgesprochen in der Luft.
»Ihren Wirkung auf Frauen in allen Ehren«, spottete Dr. Linhardt gutmütig und kratzte den letzten Rest Kuchen vom Teller. »Aber einen Schlaganfall können Sie noch nicht auslösen.«
*
Auf dem hellblau-weiß gestreiften Kopfkissen hatte sich ein dunkler Fleck gebildet. Und immer noch tropften die Tränen weiter und ließen ihn wachsen. Doch weder Eva noch sonst irgendjemand achtete darauf. Daniel Norden war noch nicht zurück. Und Schwester Elena stand in der Ecke und versuchte, sich unsichtbar zu machen.
»Hast du gewusst, dass du nicht wieder aufwachst? Vielleicht sogar geplant, als du dich von mir getrennt hast?«, schluchzte Eva. Unablässig streichelte sie die Wange ihres schlafenden Mannes. »Du Mistkerl! Umbringen könnte ich dich dafür.« Eva wischte sich mit dem Pulliärmel übers Gesicht. Ihr verschwommener Blick suchte und fand die Schwester. »Können Sie das verstehen? Dass ich ihn hasse für das, was er mir jetzt antut? Dabei liebe ich ihn doch.«
Elena holte tief Luft.
»Letztendlich wissen wir beide nicht, wie sich Ihr Mann gefühlt hat. Wir waren noch nicht in dieser Situation, zumindest ich nicht. Ich hatte noch keine so schwierige Operation mit ungewissem Ausgang vor mir.«
»Ich auch nicht«, gestand Eva offenherzig.
Schwester Elena lächelte.
»Sehen Sie. Deshalb haben wir keine Ahnung, welche Gedanken Ihrem Mann durch den Kopf gegangen sind, als er seine Entscheidung traf.«
Eva nickte und beugte sich wieder über Manni. Setzte ihr Selbstgespräch fort. Elena dagegen hörte die Schritte auf dem Flur. Bekam eine Gänsehaut. Vor der Tür verstummte das Quietschen. Die Klinke wurde heruntergedrückt, Daniel Norden schlüpfte durch die Tür. Elena schickte ihrem Freund und Chef einen verzweifelten Blick. Er nickte. Trat hinter Eva. Sie tat, als bemerke sie ihn nicht.
»Frau Tuck.«
Eva schüttelte den Kopf.
»Nein. Noch nicht. Ich kann ihn noch nicht gehen lassen.« Es grenzte an ein Wunder, dass nicht noch mehr Tränen flossen. Doch der Vorrat schien aufgebraucht.
Dr. Norden presste die Lippen aufeinander. Schon lange war sein Herz nicht mehr so schwer gewesen. Aber auch das gehörte zum Alltag eines Klinikarztes.
»Wir haben noch etwas Zeit. Aber Sie sollten sich langsam an den Gedanken gewöhnen, dass es … dass es zu Ende geht.« Ein letzter Blick. Daniel wandte sich ab. Wollte das Zimmer verlassen, als er einen Widerstand am Ärmel fühlte. Er drehte sich zu Elena um.
Ohne ein Wort deutete sie auf Manfreds Zeigefinger, an dem das Pulsoximeter befestigt war. Daniel wusste sofort, was sie meinte. Der Finger zuckte. Auf dem Weg zum Bett zog er die Taschenlampe aus der Kitteltasche. Er schob Eva weg. Zog Manfreds Augenlid hoch und leuchtete in das Auge. Zuerst in das linke. Dann in das rechte. Und wieder in das linke. Es gab keinen Zweifel!
»Willkommen zurück, Herr Tuck.« Dr. Norden lachte vor Erleichterung.
»Manni. Mein Manni!« Falsch gedacht! Es waren doch noch Tränen übrig. Offenbar gab es einen Extra-Vorrat für Freudentränen. Eva lachte und weinte gleichzeitig. »Oh, Manni!«
Manfreds Augenlider flatterten. Er versuchte zu sprechen. Schwester Elena erkannte das Problem.
»Den Tubus sind Sie gleich los.« Sie löste den Beatmungsschlauch von der Maske. Griff nach einem Papiertuch und zog vorsichtig das verbliebene Stück Schlauch aus der Lunge. Zuletzt entfernte sie die Maske.
Manfred hustete und keuchte. Aber er atmete selbstständig. Doch die nächste Hürde wartete schon. Konnte er auch sprechen? Arme und Beine bewegen?
*
»Kann mal jemand dieses Piepen ausschalten? Das ist ja nervtötend«, krächzte Christine Lekutat mit geschlossenen Augen.
Katharina Linhardt klappte die Patientenakte zu, steckte den Kugelschreiber in die Brusttasche und drehte sich zu ihrer Patientin um.
»Wenn Sie schon wieder meckern können, scheint es Ihnen ja gut zu gehen.«
Christine blinzelte ins gedimmte Licht.
»Was ist passiert?«
»Sie sind im OP mit einem ischämischen Infarkt zusammengeklappt.« Dr. Linhardt griff nach Christines rechter Hand und drückte sie. »Spüren Sie das?«
»Ein Besuch im Fitness-Studio könnte mal wieder nicht schaden.«
Katha lachte.
»Das war der Plan für heute Nachmittag. Aber Sie haben mir leider einen Strich durch die Rechnung gemacht.«
»Jetzt bin ich wieder schuld.«
Katharina war ans Fußende getreten und schlug die Bettdecke zurück.
»Dafür müssen Sie jetzt Gymnastik für mich machen«, verlangte sie. »Wackeln Sie bitte mit den Zehen. Gut.« Sie nickte zufrieden, auch wenn sich Wehmut in ihre Freude mischte. »Sieht so aus, als hätten Sie Glück im Unglück gehabt.«
»Was ist mit dem pelzigen Gefühl in den Fingern und Zehen?« Christine Lekutat hob die Hand und bewegte die Finger.
»Die Zeit wird zeigen, ob sich das wieder gibt.«
Christine ließ die Hand wieder sinken. Etwas in Katharinas Stimme irritierte sie.
»Was ist? Haben Sie Zahnschmerzen?«
Katha holte tief Luft. Wenn die Kollegin schon fragte, konnte sie auch gleich die Wahrheit sagen.
»Es gibt da noch ein Problem. Sobald Sie wieder halbwegs fit sind, müssen wir einen Eingriff an Ihrem Herzen vornhmen.«
Dr. Lekutat zog eine Augenbraue hoch.
»Was stimmt nicht mit meinem Herz?«
»Zwei Ihrer Herzkranzgefäße machen uns Sorgen.«
»Dann bringen Sie das in Ordnung. Ich will so schnell wie möglich wieder arbeiten.«
»Das kann ich leider nicht versprechen. Wenn Sie all das überstanden haben, brauchen Sie erst einmal Ruhe.« Und eine anständige Ernährungsberaterin! Aber das sagte sie nicht laut. Sie nickte der Kollegin im Bett zu und wandte sich ab. Hatte gerade die Tür erreicht, als ein Alarm die Luft zerriss. Mit zwei, drei großen Schritten kehrte sie ans Bett zurück. Auf einem der Monitore blinkte ein rotes Rechteck. »WARNING«!
»Verdammt!«, schimpfte Katha und beugte sich über Christine. »Kollegin Lekutat!«
Keine Reaktion.
»Dr. Lekutat! Hören Sie mich?«
Wieder nichts. Ein neuer Alarm ertönte. Katharina Linhardt musste nicht auf den