sich diese Stimmung im Laufe des Abends auf jeden Fall verändert. Auch abgesehen davon, dass Jesus ja bereits weiß, was ihm bevorsteht, liegt so etwas wie eine bange Vorahnung in der Luft. Die extremen Spannungen zwischen den religiösen Führern und Jesus sind allen Anwesenden nur zu bewusst. Alle, die sich im Raum befinden, fragen sich, was wohl mit Jesus passieren wird – und auch mit ihnen. Wird sein Auftreten im Tempel Konsequenzen haben? Wird er sich endlich selbst als Messias proklamieren?
Jesus durchbricht diese bange Ungewissheit mit einer Aussage, die so elektrisierend ist, dass ihr Echo all die Jahrhunderte hindurch bis heute nachhallt. »Einer von euch«, sagt er und sieht sie in einer plötzlich auftretenden Stille bei dem Passahmahl an »... wird mich verraten« (Markus 14,18).
Jesus weiß, wer von ihnen es sein wird, aber er sagt es nicht. »Meinst du etwa mich?«, fragt einer der Jünger ihn (Markus 14,19). »Es ist einer von euch Zwölfen, der mit mir das Brot in die Schüssel taucht« (Markus 14,20), sagt Jesus und meint vermutlich die Schüssel mit dem Charoset, die vor ihnen steht.
Die Geschichte des Verrates zieht sich durch den gesamten Rest des Berichtes im Evangelium über die letzten 24 Stunden im Leben Jesu. Noch bevor die Nacht zu Ende ist, wird Judas Jesus verraten; Petrus wird ihn verleugnen und seine Jünger werden ihn im Stich lassen, sodass Jesus ganz und gar allein ist, als er in den Händen seiner Feinde ist und vor Gericht gestellt wird.
Das Echo dieser Vorankündigung Jesu und der Akt des Verrates durch diejenigen, die ihm am nächsten stehen, lösen immer noch Fassungslosigkeit aus. In unserer Zeit, in der Gemeindeleiter Kinder missbrauchen, sich an Spendengeldern vergreifen und so manches mehr, ist uns aber klar, dass es solche Art von Verrat wohl immer gibt. Jesus hätte also eigentlich auch sagen können: »Ihr werdet mich alle verraten«; und wenn das so ist, müssen wir auch uns selbst anschauen.
Wann sind Sie selbst Judas? Wann sind Sie Petrus oder einer der anderen Jünger? Wann haben Sie Jesus verraten, verleugnet oder ihn im Stich lassen? Tatsache ist, dass wir ihn alle irgendwann verraten – jeder von uns.
Als ich vor ein paar Wochen in der Eingangshalle unserer Kirche Gottesdienstbesucher begrüßte, sah ich ein Ehepaar, das schon eine ganze Weile nicht mehr da gewesen war. Ich ging zu ihnen hin, um sie zu begrüßen, und sagte: »Schön, Sie zu sehen.« Daraufhin sagte der Mann: »Ich bin schon eine Weile nicht mehr da gewesen, weil ich etwas getan habe, womit ich Gott mit Sicherheit enttäuscht habe. Ich konnte mich einfach nicht überwinden, in den Gottesdienst zu kommen.« Dieser Mann könnte eigentlich jeder von uns sein. Wir enttäuschen Gott nämlich alle. Jeder von uns verrät ihn irgendwann.
Wenn wir uns beim Abendmahl an dieses letzte gemeinsame Mahl von Jesus und seinen Jüngern erinnern, dann sollten wir auch an diesen Teil des Mahles denken; daran, wie Jesus den Verrat, die Verleugnung und das Verlassen beim Namen nennt, die auf sie alle zukommen. Ich nehme an, genau das ist auch der Grund, weshalb es in den Kirchen Tradition ist, vor dem Abendmahl zu Beichte und Buße aufzurufen. In der Abendmahlsliturgie vieler Kirchen gibt es ein Schuldbekenntnis, in dem davon die Rede ist, das wir »gesündigt haben mit Gedanken, Worten und Werken ... durch das, was wir getan haben und was wir unterlassen haben.«
Ein ganzer Abschnitt im liturgischen Kirchenjahr der Christen ist dem Gedanken der Buße für unseren Verrat und unsere Leugnung gewidmet. Die Fastenzeit war in den Urgemeinden eine Zeit, in der Menschen, die Jesus Christus öffentlich geleugnet hatten, um der Verfolgung zu entgehen, öffentlich Buße taten, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen wurden und wieder am Abendmahl teilnehmen durften.
Wenn wir uns mit Buße und Wiederherstellung beschäftigen, dann sollten wir nicht vergessen, dass Jesus all seinen Jüngern die Füße wäscht (Johannes 13,3–5), obwohl er weiß, dass Judas ihn verraten wird, dass Petrus ihn verleugnen wird und dass die anderen ihn verlassen. Danach teilt er mit ihnen Brot und Wein – Brot, das für seinen Körper steht, und Wein, der für sein Blut steht. Obwohl er weiß, was seine Gefährten tun werden, sagt er zu ihnen: »Ich nenne euch nicht mehr Knechte ... ihr ... seid meine Freunde« (Johannes 15,15). Das tut er für sie alle – auch für Judas. Jesus schaut über ihren Verrat, ihre Sünden und ihr Versagen hinaus und nennt sie seine Freunde. Wir finden Trost in dem Wissen, dass das auch für uns gilt.
»Das ist mein Leib ...« (Markus 14,22) Vom Passahmahl zum Abendmahl
Nachdem Jesus angekündigt hat, dass er verraten werden wird, nimmt er den Matzen, also das ungesäuerte Brot, und segnet es. Was er aber dann sagt, sorgt bei seinen Jüngern für Ratlosigkeit und Verwirrung. Als er das Brot bricht und an seine Jünger weitergibt, sagt er: »Nehmt und esst! Das ist mein Leib« (Matthäus 26,26). Das gehört nicht zur Haggada – dem Text, der den Ablauf des Passahmahles nicht nur beschreibt, sondern auch erklärt –, sondern es handelt sich eher um einen verblüffenden Anschauungsunterricht.
Jesus spricht ständig in Gleichnissen und verwendet Bilder, Vergleiche und Metaphern. In diesem Fall steht das Brot, das er in der Hand hält, für seinen Körper, der nur wenige Stunden später mit Peitschenstriemen übersät und dann mit Nägeln durchbohrt an einem römischen Kreuz hängen wird. Aber wie so oft verstehen die Jünger weder den Vergleich noch was unmittelbar bevorsteht. Trotzdem essen sie das Brot.
Dann nimmt Jesus den Becher – wahrscheinlich den dritten der vier Becher Wein, die die Jünger beim Passahmahl trinken – und wieder löst er Verwirrung bei ihnen aus, als er sagt: »Das ist mein Blut, mit dem der neue Bund zwischen Gott und den Menschen besiegelt wird. Es wird zur Vergebung ihrer Sünden vergossen« (Matthäus 26,28). Dieser Verweis auf den Kelch der Erlösung gehört ebenfalls nicht zum Passahmahl, auch wenn die Jünger den Ausdruck »Blut, mit dem der Bund ... besiegelt wurde« vermutlich trotzdem wiedererkennen.
Er kommt nämlich schon in 2. Mose 24,8 vor, wo Mose, als Gott offiziell einen Bund mit dem Volk Israel eingeht, die Menschen mit dem Blut von Stieren besprengt und dabei die Worte spricht: »Das Blut besiegelt den Bund, den der Herr mit euch geschlossen hat.« Vielleicht erinnern sich die Jünger ja auch daran, was Gott danach durch den Propheten Jeremia sagt:
So spricht der Herr: »Es kommt die Zeit, in der ich mit dem Volk Israel und dem Volk von Juda einen neuen Bund schließe.
Er ist nicht mit dem zu vergleichen, den ich damals mit ihren Vorfahren schloss, als ich sie mit starker Hand aus Ägypten befreite. Diesen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich doch ihr Herr war!
Der neue Bund mit dem Volk Israel wird ganz anders aussehen: Ich schreibe mein Gesetz in ihr Herz, es soll ihr ganzes Denken und Handeln bestimmen. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.
Niemand muss dann den anderen noch belehren, keiner braucht seinem Bruder mehr zu sagen: ›Erkenne doch den Herrn!‹ Denn alle – vom Kleinsten bis zum Größten – werden erkennen, wer ich bin. Ich vergebe ihnen ihre Schuld und denke nicht mehr an ihre Sünden. Mein Wort gilt.«
(Jeremia 31,31–34)
Gott sagt durch Jeremia, dass die Israeliten an Gott gebunden sind, wie eine Frau an ihren Mann gebunden ist; aber sie haben ihn betrogen, sich immer wieder von Gott abgewandt. Also sagt Gott im Grunde: »Ich werde einen neuen Bund mit euch schließen müssen.« Jesus hat sicher diese Worte im Sinn, als er den Kelch in der Hand hält; und ganz sicher ist das inzwischen nicht mehr nur die Geschichte des Volkes Israel, sondern unser aller Geschichte – eine Geschichte der Zerbrochenheit und des Verrates und darüber, wie dringend nötig wir Vergebung haben.
Als Jesus sagt: »Das ist mein Blut, mit dem der neue Bund zwischen Gott und den Menschen besiegelt wird. Es wird zur Vergebung ihrer Sünden vergossen« (Matthäus 26,28), verändert er dadurch alles. Er verwandelt das Passahmahl und schenkt stattdessen allen Menschen das Abendmahl. Die Israeliten sind durch das Blut von Tieren zu seinem Volk geworden; das Letzte Abendmahl ist die Gründung eines neuen Bundes durch das Blut Jesu, und zwar nicht nur ein Bund mit den Stämmen Israels, sondern mit der ganzen Menschheit. Das Passahmahl, das einmal die Geschichte der Befreiung des Volkes Israels aus der Sklaverei nacherzählt hat, ist von nun an die Geschichte der Befreiung der gesamten Menschheit von