deinen Körper zu verlassen, weil du wissen willst, wie die Geschichte endet. Du bist sozusagen ein Serienjunkie, der dem Serienfinale entgegenfiebert.
Als ich ein Junge war, schrieb ich Geschichten, um mein Leben zu retten; jetzt erzähle ich dir genau diese Geschichten in der Hoffnung, dich zu retten. Du öffnest die Augen, du bist wach. Du hievst dich hoch, schaltest das Licht ein und blickst mich an. »Erzähl mir eine Geschichte«, sagst du.
Der hakawati erzählt seine eigene Geschichte
Wir sind umgeben von Schwingungen wie von einem ungeschriebenen Musikstück. Diese verborgene Melodie erzeugt für uns eine Routine. Jede unserer Handlungen ist wie ein sanftes Streichen über die Saiten einer Violine. Wir komponieren eine Symphonie aus Traditionen und täglichen Gewohnheiten, die das Leben imitieren; aber das ist nicht das Leben, sondern eine Bewegung auf der Tonleiter. Der Klang deiner Schritte, wenn du am späten Vormittag das Bett verlässt und ins Badezimmer gehst; das Pfeifen des Wasserkochers, wenn ich deinen Kaffee zubereite; das schmerzvolle Ächzen, wenn ich die Treppe zu deinem Zimmer hinaufgehe – all das vermischt sich mit den unablässigen Geräuschen, die unser altes Haus macht. Zusammen erzeugen diese Geräusche ein Leben, das wir auch dann in uns spüren, wenn wir nicht auf sie achten.
Ich habe mich an diese Musik gewöhnt, und jetzt kann ich mir das Leben ohne sie nicht vorstellen. Eine meiner heimlichen Freuden ist, meine Gedanken schweifen zu lassen, im Kopf ein Bild deiner dicken weißen Augenbrauen zu zeichnen, wenn du in den Spiegel schaust und nach einer früheren, schönen Version von dir suchst, die es nicht mehr gibt. Selbst wenn ich mit den Hunden im Garten sitze, sehe ich vor mir, wie du mühsam versuchst, eine weitere Stufe zu bewältigen, die fünfte Stufe knarrt immer ein bisschen; das muss ich irgendwann reparieren.
Unser Garten ist riesig und von wuchernden Bäumen und Büschen eingerahmt, die ihn umschmiegen wie ein Armband ein Handgelenk. An den nicht sehr vielen sonnigen Tagen in Vancouver wird er grün, und die Blumen beäugen einander und machen sich bereit für eine neue Bestäubungsperiode. An den verregneten Wintertagen, die sich viel zu lange hinziehen und uns ans Haus fesseln, wird er matschig, in den Ecken bilden sich kleine Wasserlachen. Der heftige Regen trägt mit seinem beharrlichen Trommelrhythmus zur Symphonie bei, wenn er auf die Pfützen in unserem Garten prasselt.
Unser Haus war weiß, als wir es vor über zwanzig Jahren kauften. Wir strichen es erst rot, weil wir das peppig und hübsch fanden, und dann grün, weil dich die Farbe an dein Elternhaus in Damaskus erinnerte. Als wir älter wurden, verabschiedeten wir uns von den fröhlichen Farben und gaben uns mit einem dunklen Grau zufrieden, der Farbe deiner Augen, wenn du frühmorgens aufwachst und deine Medizin und dein Frühstück verlangst.
Der Wind traf immer die Südseite des Hauses, riss Fenster auf und ließ Türen zuknallen. Er machte die Hunde verrückt und weckte uns mitten in der Nacht auf. Er pfiff wie ein fremder Mann auf der Straße, der sich über uns lustig macht. Er brachte die Gerüche der English Bay und des Sunset Beach mit. Er trug den Duft der Donuts vom nahe gelegenen Tim Hortons zu uns und machte uns fast jeden Morgen Appetit darauf.
Jetzt rüttelt der Wind nicht mehr an unserem Haus, in unserer Symphonie fehlt eines der wichtigsten Instrumente. Hohe Wolkenkratzer haben sich rings um unser kleines zweigeschossiges Haus angesiedelt und es im Laufe der Jahre langsam, aber penetrant eingekreist.
Du hast unser Haus angefüllt mit Gemälden, Mosaikarbeiten und traditionellen Sitzecken wie in deinem Elternhaus damals in Damaskus. Wochenlang hast du Möbel gerückt, dann hast du dich in eine Zimmerecke gestellt und dir im Geist alle möglichen geselligen Zusammenkünfte ausgemalt, die nie stattfanden. Du hast überlegt, ob das gerahmte Schwarz-Weiß-Foto deines Großvaters zentral an der Wand oder in einem versteckten Winkel deines Arbeitszimmers hängen sollte. Erst wolltest du einen blauen Teppich für das Wohnzimmer, dann hast du einen dunkelgelben gekauft und es nur Tage danach schon wieder bereut. Du hast gern im Garten gearbeitet und die Pflanzen gegossen.
Mit solchen Abwägungen ist es nun vorbei. Du gärtnerst nicht mehr. Du hast seit fünf Jahren kein einziges Möbelstück verrückt. Im Wohnzimmer liegt kein Teppich, und auf dem Foto deines Großvaters, das du achtlos in unserer Abstellkammer deponiert hast, sammelt sich der Staub.
Nachts verstummen die Geräusche unseres Lebens, öffnen den Raum für die Geräusche des Unbekannten, die durch die Fenster in unser Haus dringen. Nachts schläfst du, und ich bleibe wach, lausche den Stimmen und versuche ihre Botschaften zu deuten. Werden sie mir eine Geschichte für dich erzählen? Manchmal ja, manchmal nein. Dein rhythmisches Ein- und Ausatmen hält mich wach, und ich frage mich, ob du wohl gerade von deinem eigenen Paradies träumst.
Als du noch ein Junge warst, dachtest du, dir stünde die ganze Welt offen. Du hast dein Herz dem Lachen geöffnet und Witze gerissen. Einmal hast du mir ein altes Video von dir gezeigt, aufgenommen mit einer Kamera, die ihr euch von einem Bekannten deines Vaters, einem Hochzeitsplaner, ausgeliehen hattet. Man sah, wie du im weißen Jackett und mit roter Fliege dastandest und stumm dem Beat eines Reggae-Songs lauschtest, der in den Neunzigerjahren in Syrien ziemlich angesagt war. Auf einmal fingst du zu tanzen an, ohne die Menschen um dich herum oder das Lachen deines Vaters wahrzunehmen. Du hast die Schritte der Tänzer in dem Musikvideo imitiert, dich nach links und rechts gedreht, laut beim Refrain mitgesungen. Du hast die Füße bewegt, so schnell du konntest, und im Takt mit dem Kopf genickt.
Das, hast du mir erzählt, sei dein Himmel. Das war die Zeit, als du noch du selbst warst, bevor du vor der Realität des Lebens geflüchtet bist und deine Gedanken in deinem Kopf eingesperrt hast. Als du älter wurdest, hast du aufgehört zu lachen und zu tanzen und dir stattdessen einen sarkastischen Humor zugelegt, an dem niemand teilhaben darf, und ein Bedürfnis nach persönlichem Freiraum entwickelt, um ungestört deinen Gedanken nachhängen zu können.
Dein Atem wird mühsamer, und kurz krampft sich mein Herz vor Angst zusammen. Schließlich öffnest du die Augen. Du lächelst mich an. »Darf ich dir jetzt das Ende erzählen?«, frage ich und ziehe dich an mich; du lässt deinen müden Kopf, bis zum Rand mit Medikamenten zugedröhnt, auf meiner Brust ruhen. Ich höre das leichte Knacken meiner gebrochenen Rippe, die unter dem Gewicht ächzt. Ich ignoriere es wie in den vergangenen sechzig Jahren. Auch du hörst das Knacken.
»Ich will dir nicht zur Last fallen«, sagst du und verschiebst den Kopf. »Deine gebrochene Rippe ist nie richtig verheilt.«
Ich ziehe dich enger an mich. »Keine Sorge, das spüre ich kaum noch.« Ich kratze mich genau an der Stelle, wo die gebrochene Rippe liegt.
Mit Anfang zwanzig habe ich eine Weile in Kairo gelebt. Ich habe dir diese Geschichte schon einmal erzählt, vor vielen Jahren, aber seitdem nicht mehr. Ich erzähle nicht gerne alte Geschichten von gebrochenen Rippen und schmerzhaften Erfahrungen. Sie haben nichts mehr mit mir zu tun, sondern mit anderen Männern, die sie an meiner Stelle erlebt haben. Jede Phase meines Lebens kommt mir vor wie die Geschichte eines anderen Mannes, keinen dieser Männer kenne ich gut. Keinen von ihnen verstehe ich jetzt noch. Diese Geschichte handelt von einem Mann, der mit Anfang zwanzig in Ägypten lebte. Er brach aus, verließ seine Familie in Syrien und zog in ein Land, das er nur aus Mumienfilmen und Jugendbüchern kannte. Warum hat dieser Mann diese Entscheidung getroffen? Was hat ihn dazu gebracht, alle Anzeichen zu ignorieren und die leere, dunkle Straße in den Außenbezirken Kairos entlangzugehen, allein und arglos?
Der fremde Mann wurde in seiner Clique ägyptischer Freunde als homosexuell geoutet. Den Rest der Geschichte kannst du dir denken: Eines Nachmittags bekam er einen Anruf von einem seiner Freunde. Er wurde aufgefordert, in ein Einkaufszentrum zu kommen, und er tat es. Dort setzte sich dieser Fremde zu seinen Freunden im Gastro-Bereich, wo es penetrant nach McDonald’s-Essen roch.
»Wir haben Geschichten über dich gehört«, sagte einer aus der Gruppe, ein großer, dunkelhäutiger Bursche mit dickem Schnurrbart und Weihnachtsmannbauch. »Du sollst wissen, dass wir dich unterstützen, wir lassen dich nicht fallen, wir stehen hinter dir.«
»Was bist du? Ein Top oder ein Bottom?«, erkundigte sich Fady, in den der Fremde verknallt war. »Ich meine, wenn du ein Top bist, kannst du einfach ein Mädchen heiraten und mit ihr machen, was