schlüpfe ich durch die Tür in mein Zimmer.
Ich erinnere deinen Geist daran, wie du dort in der Ecke meines Schlafzimmers stehst und mir die flüchtigen Momente und die letzten Nächte mit meinem Geliebten raubst, dass ich diesen Weg der Schande nicht zum letzten Mal ging.
Wie ein Mond, der sich aus der Dunkelheit schält, erscheint sie vor mir, auf einem Foto, das vier Minuten nach ihrem Tod geschossen wurde. Ich versuche Evelyn McHale zu ignorieren, aber sie verfolgt mich. Sie liegt da wie die Tochter einer Göttin, die sich für die Sünden anderer geopfert hat. »Sagt meinem Vater«, schrieb sie in ihrem Abschiedsbrief, »dass ich zu viele Veranlagungen meiner Mutter geerbt habe«. Sie hatte Angst um ihren Geliebten und ihre eigenen Nachkommen und brachte ein Blutopfer für sie. Sie ruft meinen Namen, fragt sich, ob ich eine Umarmung, einen Kuss oder eine Gutenachtgeschichte brauche. Ihre geschlossenen Lider, ihr Haar, ihr vermutlich bordeauxrotes Kleid, all das hat sich in meine Gehirnzellen eingebrannt; ein leuchtendes Foto-Negativ von ihr in meinem Hinterkopf.
Wie die Männer, die sich um den Leichnam von McHale versammelt haben, bin ich alarmiert. Es ist später Vormittag, und ich rieche Rauch, der in mein Zimmer dringt. Was jetzt?, überlege ich und öffne die Tür. Meine einzige Angst ist, dass mein ausgeklügelter Fluchtweg durch Feuer blockiert sein könnte. Langsam erkunde ich das Haus und schnuppere, versuche herauszufinden, wo genau es brennt. Ich gehe in die Küche. Vielleicht hast du wieder einmal einen deiner fehlgeschlagenen Kochversuche im Backrohr vergessen. In der Küche ist niemand, im Spülbecken türmen sich bis zum Rand Eierschalen und schmutzige Teller von den unzähligen Omeletts, die ich mir gemacht habe. In der Ecke fault ein Bananenbündel vor sich hin, umschwärmt von Fliegen, und die Kartoffeln im Plastikkörbchen haben lange, gewundene Keimlinge. Es riecht durchdringend nach brennendem Öl. Jemand hat die Kühlschranktür offengelassen, aber der Kühlschrank ist leer.
Mein Herz schlägt schneller. Womöglich hast du ja die Haustür in Brand gesteckt. Der Gedanke daran zu sterben, erstickt mich wie Asche.
Der Rauch kommt vom Balkon. Dort stehst du in einer Ecke, vor dir eine große Tonne; Flammen züngeln daraus hervor und spiegeln sich in deinen starr blickenden Augen. Auf deinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus; es macht dir Spaß, wie einem Kind, das die Puppe seiner Schwester so lange an die Wand wirft, bis das Gesicht eingeschlagen ist.
Ich will herausfinden, was da los ist, und gehe näher heran. Laut hustend, um dich aus deiner Trance zu reißen, mache ich einen Schritt auf dich zu. Du nimmst keine Notiz von mir. Schließlich trete ich durch die Tür zu dir auf den verstaubten alten Balkon. Für mich war dieser Balkon immer eine Zuflucht; ich wünschte mir, er wäre breit genug, um mir eine Schaukel darauf bauen zu können.
In den Flammen kokeln Dutzende Fotos. Ich schnappe nach Luft, als ich merke, dass es meine Fotos sind: Fotos, die ich mit zwölf im Ferienlager geknipst habe; ein Foto aus der Schule, auf dem ich total krank aussehe; ein Foto von dir mit einer Rose im Haar, hinter dir glitzert das Meer; ein Foto von mir und meinen Cousins in unseren Eid-Kleidern; ein Foto von mir, vergnügt lachend, als ich mit einem anderen Jungen seilspringe. Mein kleines Gesicht auf diesem Foto brennt. Das Feuer frisst sich in die Ränder, verbrennt das Seil, zerstört die Gesichtszüge des anderen Jungen, erreicht meinen Körper, verbrennt meine Arme, meine Ohren, meine Haare, meine Stirn, meine Augen und schließlich meinen lachenden Mund, sodass er nicht vor Schmerz aufschreien kann.
Von der anderen Seite der schmalen Straße späht ein Nachbar auf dem Balkon eines alten Hauses neugierig zu uns herüber, wie wir eine Stunde lang still dastehen. Das Feuer trägt dich in ein Land deiner Fantasie; deine Augen folgen den Flammen. Das war’s dann mit dem Teilen von Erinnerungen am Throwback Thursday und all den süßen Kinderfotos.
Scheiße, ich werde dir keinen Grund für eine Ohrfeige geben. Ich werde den Mund halten; von mir aus kannst du das ganze Haus abbrennen. Zumindest hat der Rauch den gammeligen Gestank aus der Küche übertüncht.
Der Nachbar hingegen ist nicht so schlau wie ich. »Gibt es ein Problem?«, ruft er herüber. Zwei Leute sehen von der Straße nach oben und wundern sich. Du gibst keine Antwort. In aller Seelenruhe gehst du ins Haus und holst ein Buch aus meinem Zimmer – eine arabische Übersetzung von Joyce’ »Ein Porträt des Künstlers als junger Mann.« Ich bin froh, dass ich es schon gelesen habe.
Du zielst und schleuderst das Buch über die Straße; du hast nicht genug Kraft in der Hand, aber der dramatische Akt schüchtert den Nachbarn genug ein, dass er sich nicht weiter einmischt. »Verpiss dich«, flüsterst du. Das Buch trifft das Haus gegenüber zwei Etagen tiefer und fällt dann auf die Straße, die Seiten flattern wie die Flügel eines aufgeschreckten Vogels.
»Fotos sind haram, sie sind sündig«, sagst du. »Sie sind Pforten zur Hölle und werden Geister und Dämonen zu uns bringen.« Ich starre einen Moment auf mein Buch unten auf der Straße. Ein Mann tritt darauf, ein anderer kickt es weg, dann ist es verschwunden.
Der Sprung vom Empire State Building hat sie für immer unsterblich gemacht. Sie ist gesprungen, um vergessen zu werden. Ihr letztes Porträt erzählt nur von ihrem Kampf, ihrer Erleichterung darüber, dass nun nicht mehr die Sehnsucht, dazuzugehören, an ihr nagte. Sie wirkt, als hätte sie einen langen Spaziergang in einem Dschungel aus Heu gemacht und beschlossen, sich im Gras auszuruhen, als hätte sie ihre High Heels abgestreift und würde mit geschlossenen Augen die Sonne genießen, das Kinn mit einem Gänseblümchen streicheln, das sie unterwegs gepflückt hat. Nur dass das Gras ein Bett aus Metall, der Körper tot und das Gänseblümchen eine scharfe Glasscherbe ist.
Wann habe ich beschlossen wegzulaufen? Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern. Es kam so unerwartet wie der Frühlingseinbruch nach einem langen Winter. Der Gedanke wurde immer stärker wie die Sonne im April, durchbrach die Stürme deines Geschreis. Durchdrang den dunklen Nebel meiner Verlassenheit und Isolation.
Jenen letzten Moment, als es dann so weit war, werde ich niemals vergessen. Du sagtest, dass du spazieren gehst. Du machst jeden Tag einen langen Spaziergang und verschwindest stundenlang. Keiner weiß, wo du bist, und es scheint auch keinen zu interessieren.
Du legst dein Make-up auf, knallgrünen Lidschatten, etwas Rot auf die Lippen, und bindest dir dein weißes Kopftuch um, bevor du Stufe um Stufe die Treppe hinuntergehst, deine klappernden High Heels erzeugen einen hypnotischen Rhythmus. Sobald das Klappern verklungen ist, stürze ich auf den Balkon; ich sehe dich auf der Straße, mit deiner berühmten blauen Jacke, deinen Lieblingsstrümpfen, deiner weißen Handtasche. Mir liegt der Geruch meiner verbrannten Erinnerungen in der Nase, in der Tonne ruht noch ihre Asche. Du gehst mit gleichmäßigen Schritten die Straße entlang, bis du nicht mehr zu sehen bist. Meine Sonne scheint. Ich gehe.
Meine Bücher sind entbehrlich. Ich behalte nur mein Lieblingsbuch. Kleidung besitze ich nicht viel; ich nehme nur die mit, die nicht mit Blut oder Erinnerungen besudelt ist. Die Tasche, die einmal meine Schultasche war, füllt sich rasch mit meinen Sachen. In meiner Hosentasche ist Geld. Meine Schuhe warten an der Tür auf mich.
Ich werfe einen letzten Blick auf mein Zimmer, das schmale Bett, die blaue Matratze, die hölzernen Fenstergitter, meine Bücherregale, die zum Teil kaputt sind. Das kleine weiße Sofa und den kleinen Kamin. Ich verabschiede mich davon, ich werde das alles nie wiedersehen.
Nachdem ich die Haustür hinter mir geschlossen habe, erlaube ich mir einen Abschiedsscherz, ich drehe den Schlüssel im Schloss herum und breche ihn ab. Ich lächle boshaft.
Zehn Jahre sind vergangen, seitdem ich dich zuletzt gesehen habe, Mutter. Ich habe dich auf Schritt und Tritt gemieden; meine Flucht scheint niemals zu enden. Wie kann man seiner eigenen DNA entkommen? Wie kann man zurückblicken, sich denken: Scheiß drauf, und weitermachen?
Auf der obersten von drei Stufen, die zu einem kleinen Restaurant in Damaskus führen, sah ich dich an einem Vorfrühlingstag Ende der Zweitausenderjahre wieder. Ich fragte mich, ob du zu mir herunterkommen würdest oder ob ich zu dir hinaufgehen sollte. Mit den hellwachen Sinnen einer Straßenkatze scannte ich unwillkürlich meine Umgebung nach einem möglichen Fluchtweg.
Als du mich umarmtest, erschauderte ich. Du stelltest mir Fragen über mich, über meine Reisen um die Welt. Du lächeltest, lachtest, wirktest