Roy Rockwood

Bomba in einem fremden Land


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Verlangen nach der Freiheit und Abenteuerlichkeit seines Urwaldlebens wurde immer stärker in seinem Herzen. Er sehnte sich nach den Kämpfen mit Raubtieren und Schlangen — nach jenen gefährlichen Zweikämpfen, die seinen Mut, seine Geschicklichkeit und Kraft so entwickelt hatten, dass er zum Herrn des Dschungels geworden war.

      Aus dem Urwalde, seiner eigentlichen Heimat, hatten ihn die Eltern zuerst in eine große Stadt an der Küste Südamerikas gebracht, und dann waren sie mit ihm und seinem Gefährten Gibo nach New York gereist. Äußerlich betrachtet, besaß er hier alles, was das Herz eines durchschnittlichen Jungen sich nur wünschen konnte. Seine Eltern waren sehr wohlhabend und scheuten keine Kosten, wenn es galt, ihm einen Wunsch zu erfüllen und ihn glücklich zu machen. Sie hatten die besten Erzieher genommen, um Bomba mit den Wundern jenes neuen Lebens vertraut zu machen, in das er nach so vielen Jahren ungebundenen Dschungeldaseins plötzlich versetzt worden war.

      Zuerst war alles neu und wunderbar für ihn gewesen. Er hatte die großen Städte bewundert, die riesigen Gebäude, die Eisenbahnzüge, die großen Schiffe, die Flugzeuge und Autos. Die technischen Wunder des elektrischen Lichtes, des Telefons, des Radios und Grammophons hatten ihn eine Weile lang begeistert und entzückt, und er hatte die neuen Eindrücke gierig in sich aufgesogen. Da er eine gute Auffassungsgabe hatte, war es ihm leichtgefallen, alles schnell zu begreifen und jene Wissenslücken zu füllen, die die Jahre im Dschungel bei ihm hinterlassen hatten. Aber so bewundernswert und köstlich zuerst alles gewesen war — allmählich war Bomba mit neuen Eindrücken übersättigt, und die Zivilisation begann ihn wie eine Zwangsjacke einzuengen. Körper, Geist und Seele wurden gleichermaßen in Fesseln geschlagen, und das Verlangen, diese Fesseln zu durchbrechen, wurde natürlicherweise immer stärker.

      „Ich werde mit dir gehen und mir deinen Dschungel zeigen lassen“, sagte Bomba, der trotz seiner Hoffnung noch nicht ganz überzeugt war.

      „Ja, Herr! Gehen wir gleich!“, rief Gibo froh. „Und am besten nehmen wir auch die Sachen mit, die wir im Dschungel immer getragen haben, und die Waffen, mit denen wir vertraut sind. Dann wird es uns Vorkommen, als hätten wir die Fahrt über das große Wasser nur geträumt und wären wieder in der Nähe unseres Arao-Dorfes.“

      „Ja, nimm die Sachen mit, und wenn wir diesen Dschungel erreicht haben, dann legen wir dieses Zeug hier ab.“ Er wies mit einer verächtlichen Gebärde auf die Kleidung, die er und sein Gefährte trugen.

      Nach wenigen Minuten schlüpften die beiden durch einen Seitenausgang des Hotels unbemerkt ins Freie. Sie mieden die breiten, hell erleuchteten Straßen und eilten schnell in der Richtung des Bronx-Parks dahin.

      In seiner Unschuld hatte Gibo diese Parkfläche für einen Urwald gehalten. Zufälligerweise war er zu einer Zeit dorthin gekommen, zu der kaum ein Besucher anzutreffen gewesen war. Das hatte den Eindruck verstärkt, dass es sich um ein weites, unbesiedeltes Dschungelgebiet handelte. Und wenn Gibo überhaupt daran gezweifelt hatte, im Dschungel zu sein, dann waren diese Zweifel zerstreut worden, als er auf die große Sammlung von Raubtieren, Vögeln und Reptilien gestoßen war, die den New Yorker Zoologischen Garten zu einem der schönsten seiner Art in ganz Amerika machte. Viele der Tiere, die er dort sah, kannte er aus seinen heimischen Jagdgründen. Er hatte mit ihnen gekämpft, und sein Körper war noch mit den Narben jener Wunden bedeckt, die ihm die Krallen und Fänge der Bestien zugefügt hatten.

      Die beiden eilten in dem mühelos wirkenden Wolfstrab dahin, in dem sie Meile um Meile in erstaunlicher Schnelligkeit zurücklegen konnten. Von den Passanten wurden sie kaum beachtet. In diesem Teil der Stadt, der nicht weit von der Columbia-Universität entfernt war, geschah es oft, dass Studenten durch die Straßen liefen, um für irgendein Sportfest zu trainieren.

      Inzwischen hatte sich leichter Nebel über die Stadt gesenkt, und allmählich ging dieser feuchte Nebel in dünnen Regen über. Die Straßen leerten sich, und im fahlen Licht der Straßenlaternen wirkten die vorbeihuschenden Gestalten nur noch wie flüchtige Schatten.

      Als Bomba und Gibo den Park erreichten, waren sie fast allein. Der Regen hatte die Besucher vertrieben. In der Nähe des Botanischen Gartens war der ‚Dschungel“ am dichtesten, und dorthin eilten Bomba und Gibo jetzt. Das Herz des Dschungelboys schlug schneller, als er um sich blickte: Bäume, Büsche, Blumen, Gras!

      Das war tatsächlich ein Dschungel! Wenn er auch nicht mit dem dichten und üppig wuchernden Urwaldgebiet am Amazonas verglichen werden konnte — das war doch immerhin etwas anderes als die von Menschenhand geschaffene Stadt aus Stein und Glas und Stahl! Die Füße sanken in weichen Boden, und Bombas Nasenflügel bebten, als er den Duft der Pflanzen und Blüten einsog, der durch die Feuchtigkeit noch kräftiger geworden war.

      „Rasch, Gibo!“ rief der Junge froh, als er in einem Gebüsch die städtische Kleidung abstreifte und sein Dschungelgewand anlegte.

      Blitzschnell war der Wandel vollzogen — und was für ein Wandel das war! Der Sohn des berühmten Malers Andrew Bartow und der ebenfalls berühmten Opernsängerin Laura Bartow war verschwunden, und an seiner Stelle stand Bomba, der Dschungelboy, in einem New Yorker Park.

      Abgesehen von einem kurzen Lendenschurz um Hüften und Oberschenkel und Sandalen aus geflochtenem Hartgras, bestand seine Kleidung lediglich noch aus einer Pumahaut, die schräg über die Brust gespannt und mit Bändern am Rücken befestigt war. Ein Bogen hing über der Schulter des Jungen, und in dem Köcher an seiner Hüfte staken griffbereit die Pfeile. An der anderen Seite des Gürtels stak die Machete, das zweischneidige Buschmesser von nahezu einem Fuß Länge mit der rasiermesser-scharfen Klinge.

      Mit einer fast zärtlichen Geste strich Bomba über die Bogensehne und den Griff der Machete. Es war ein tröstliches Gefühl, diese vertrauten Waffen, die ihm so oft das Leben gerettet hatten, wieder bei sich zu haben.

      Das war das wirkliche Leben! Bomba zog berauscht die Luft ein und blickte sich erwartungsvoll um. Witternd hob er die Nase, denn das Dschungelleben hatte seinen Geruchssinn unglaublich verfeinert. Aber keine feindliche Witterung stieg ihm in die Nase. Keine glühenden Augen spähten durch die Büsche. Keine verstohlenen Schritte glitten durch das Unterholz.

      „Wo sind die Tiere, von denen du gesprochen hast?“, fragte Bomba. „Nur zwei Pfeilschüsse von hier entfernt“, erwiderte Gibo, der sich ebenfalls in jenen Dschungelbewohner zurückverwandelt hatte, der er bis vor einer Reihe von Monaten gewesen war. Er trug etwa die gleiche Kleidung wie Bomba, nur fehlte bei ihm das Pumafell.

      „Ich möchte vor allen Dingen das Tier mit den zwei Schwänzen sehen, von dem du gesprochen hast“, flüsterte der Junge, als sie weiterglitten.

      „Du wirst es gleich sehen, Herr“, versprach Gibo. „Es ist ein riesiges Tier, und seine Haut ist so zäh und dick wie die der heiligen Alligatoren der Abaragos.“

      „Ist es größer als Polu, der Puma?“, fragte Bomba.

      „Es ist größer als viele Pumas zusammen“, erwiderte der Indianer. „Seine Füße sind dick wie Baumstämme, und es hat lange, gebogene Stoßzähne, deren Spitzen so scharf wie Speere sind.“

      Keiner der beiden hatte bisher etwas von einem zoologischen Garten gehört. Vielleicht hatten Bombas Eltern absichtlich vermieden, den Jungen dorthin zu führen, um seine Sehnsucht nach dem Dschungelleben nicht wieder zu erwecken. So kam es, dass sie jetzt in aller Unwissenheit den Zoologischen Garten der Stadt New York betraten, ohne sich über dessen Bedeutung im Klaren zu sein.

      Inzwischen war aus dem Nieselregen ein leichter Wolkenbruch geworden. Nur noch die Wärter waren da, und auch sie hatten irgendwo Unterschlupf gesucht, nachdem sie ihre Schützlinge gefüttert und versorgt hatten.

      Für die beiden Abenteurer hatte der Regen freilich nichts zu bedeuten. Selbst wenn ein sintflutartiger Regen herabgerauscht wäre, hätten sie sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen. Sie näherten sich bereits dem Raubtiergehege, und Bomba hielt plötzlich inne.

      „Horch!“, flüsterte er, indem er unwillkürlich die leise Sprechweise des Dschungels annahm.

      Aus dem Affenhause drang ein Durcheinander von schnatternden Stimmen, und das Gesicht des Jungen erhellte sich. Er war immer ein Freund des Affenvolkes gewesen, und er musste jetzt an