zu jener abgelegenen Stelle, an der sie ihre Kleidung versteckt hatten. Mit großen Augen schaute er zu, während sich die ehemaligen Dschungeljäger wieder in wohlgekleidete New Yorker verwandelten, die sich in nichts von den Hunderttausenden unterschieden, die täglich durch die Straßen hasteten. Mit einer letzten Warnung verabschiedete er die beiden und verschwand.
Nachdenklich schritten die Jungen an den Gehegen der Raubtiere entlang. Die Stimmen des Dschungels erwachten rund um Bomba her. Aus der Ferne drang der heisere Ruf eines Schakals herüber, und irgendwo in der Nähe klagte eine Hyäne.
Eine seltsame Stimmung befiel den Jungen. Er musste unvermittelt an seinen Vater denken, der nach Afrika gefahren war, um dort im Tanganjika-Gebiet Bilder zu malen. Die nächtlichen Stimmen der Raubtiere schienen sich plötzlich zu einem Chor der Klage und düsteren Prophezeiung zu vereinen. Und mit einem Male wusste Bomba — ahnte er es tief in seinem Herzen, dass seinem Vater in der fernen Dschungelwelt des afrikanischen Urwaldes etwas Schlimmes widerfahren war.
„Gibo“, flüsterte er und blieb plötzlich stehen. „Ich höre, wie mich mein Vater ruft.“
3 Der geheimnisvolle Ruf aus der Ferne
Gibo starrte seinen jungen Herrn entgeistert an, als er diese seltsame Ankündigung hörte.
„Ich verstehe das nicht, Herr“, sagte er verwirrt. „Meine Ohren sind gut, aber ich höre nichts.“
„Mein Vater ruft mich“, wiederholte Bomba mit merkwürdig klangloser Stimme. „Ich kann selbst nicht sagen, was es ist. Vielleicht ist es der Schrei der Hyäne, der mir die Nachricht gibt — vielleicht ist es der heisere Ruf des Schakals. Aber ich weiß, dass mein Vater sich in Not befindet.“
Gibo schwieg. Er hatte im südamerikanischen Dschungel schon zu oft erlebt, dass Bomba sich mit den Tieren verständigen konnte, und er glaubte fest an die Zauberkräfte seines jungen Herrn. Dennoch wusste er, dass Afrika noch viel weiter entfernt war als ihre eigene Dschungelheimat.
„Wie kann die Hyäne dir Nachricht von deinem Vater aus Afrika bringen, Herr?“, fragte er. „Vielleicht bist du nur erregt und bildest dir das ein. Auch ich habe so ein merkwürdiges Gefühl. Es ist mir zumute, als wäre ich wieder in unserer Heimat und all die Tiere sprächen mit ihren vertrauten Stimmen zu mir. Nur kann ich nicht verstehen, was sie sagen.“
Bomba lächelte traurig.
„Auch ich kann die Stimmen nicht verstehen, Gibo. Aber es geht mir so wie dir: mein Herz ist unruhig, und ich höre Stimmen, die mir etwas mitteilen wollen. Ich weiß, dass wir bald aufbrechen müssen, um meinen Vater aus einer Gefahr zu befreien. Gehen wir jetzt schnell ins Hotel zurück. Ich will meiner Mutter sofort sagen, dass mein Vater mich braucht, und dass ich nach Afrika reisen muss.“
Die beiden verfielen wieder in jenen schnellen, geschmeidigen Hundstrab, der sie in erstaunlich kurzer Zeit vom Bronx-Park in ihr Hotel zurückbrachte.
„Herr, gibt es an jenem Ort, von dem du sprichst, auch einen Dschungel?“, fragte Gibo, als sie nebeneinander herliefen.
„Ich weiß nur sehr wenig von Afrika“, erklärte Bomba. „Nur das, was mir mein Vater davon erzählt hat. Ja, es gibt dort auch Urwälder und große Flüsse — aber es gibt dort auch weite Steppen und hohe Gebirge. Das alles hat mein Vater mir erzählt.“
„Und gibt es in den Dschungelwäldern auch Jaguare, Schlangen und Alligatoren?“, erkundigte sich Gibo weiter.
„Es soll dort Schlangen und Alligatoren geben“, berichtete Bomba. „Aber statt der Jaguare gibt es dort andere große Raubkatzen, die man Leoparden nennt. Dann gibt es auch Tiere mit großen Hörnern dort und eine Bestie, die stärker ist als alle anderen und ein Gebrüll ausstößt wie das Rollen des Donners: das ist der Löwe. Vielleicht gibt es auch jenes Tier dort, das wir vorhin gesehen haben und das der Mann mit der Uniform Elefant genannt hat.“
Gibos Augen funkelten.
„Dann wird es in Afrika gute Jagd geben“, jubelte er. „Unsere Pfeile werden zischen, und Bombas Machete wird durch die Luft sausen.“
„Ja“, bestätigte Bomba nachdenklich. „Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir zu keinem fröhlichen Jagdausflug aufbrechen wollen. Wir müssen meinen Vater suchen und ihn aus den Klauen von Feinden erretten, die wir noch nicht kennen.“
Inzwischen hatten sie das Hotel erreicht, und durch die marmorgetäfelte Empfangshalle eilten sie zum Aufzug und ließen sich nach oben tragen. Noch immer betrachtete Gibo diesen ‚Käfig aus Gold‘ mit einigem Misstrauen. Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass diese geheimnisvolle Glaskabine mit ihren Messinggittern und den Blumenarabesken aus Goldblech sich bewegte, wenn man an einer Kurbel drehte und auf bestimmte Knöpfe drückte, die sich auf einer schimmernden schwarzen Tafel an der Wand der Kabine befanden. So vertraut ihm auch der kleine Liftboy wegen seiner dunklen Hautfarbe vorkam: in seiner grünen Uniform mit den schimmernden Messingknöpfen erschien er ihm dennoch als eine Art von höherem Wesen. Das lag nicht an der Uniform, an die sich Gibo schon längst gewöhnt hatte. Aber dieser kleine Mann, der so aussah, als wäre er auch im Dschungel großgeworden, hantierte mit einer Selbstverständlichkeit mit der Fahrstuhlkurbel und den geheimnisvollen Knöpfen, die immer von neuem Gibos stumme Bewunderung erregte. Wenn er mit seinem Herrn im Fahrstuhl aufwärts oder abwärts fuhr, stellte er sich gerne so, dass er den Liftboy beobachten konnte. Aber wenn sie dann den Fahrstuhl verließen, gestand er sich im stillen mit einem Seufzer ein, dass er nie dieses Geheimnis ergründen würde, das den ,goldenen Käfig‘ aufwärts und abwärts bewegte und immer gerade an der richtigen Stelle halten ließ — nämlich dort, wo die Gittertüren waren und man bequem aussteigen konnte. Es gab nur etwas, was er beinahe ebenso gern getan hätte, wie in den Dschungel zurückzukehren: Meister in der zauberhaften Kunst zu werden, einen ‚goldenen Käfig‘ zu führen.
Bomba ließ sich gleich in das zweite Stockwerk hinauffahren, in dem die Räume seiner Mutter lagen. Eine Zofe öffnete auf sein Klopfen hin und meldete die beiden an. Dann führte sie Bomba und seinen Gefährten hinein. Laura Bartow hatte gerade ein Buch gelesen, dass sie jetzt lächelnd zur Seite legte. Sie umarmte Bomba und küsste ihn zärtlich, als er sich auf die Lehne ihres Sessels setzte. Trotz aller seelischen Qualen, die sie in jenen langen Jahren der vergeblichen Suche nach ihrem Sohn durchlitten hatte, war sie noch immer eine sehr schöne Frau, auf die sowohl ihr Gatte als auch ihr Sohn außerordentlich stolz waren. Ihre Schönheit war nicht nur äußerlicher Art, sondern sie leuchtete aus ihrem Innern durch den seelenvollen Blick und schien sich in jeder ihrer Bewegungen auszudrücken.
„Dein Anzug ist ja nass“, sagte sie erstaunt, als sie die Hand liebevoll auf seinen Arm legte. „Wo warst du denn in dieser regnerischen Nacht? Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Vorhin habe ich Marie“ — sie wies auf die Zofe — „an deine Tür klopfen lassen. Ich wollte, dass du mir Gesellschaft leistest, aber du warst nicht da.“
„Ich hätte dir sagen sollen, wohin ich gehe“, gab der Junge reuevoll zu. „Gibo bat mir vorhin gesagt, er hätte einen Dschungel gefunden, in dem es wilde Tiere und eine Bestie mit zwei Schwänzen gäbe. Und ich war so neugierig, dass ich mit Gibo fortgerannt bin, ohne dir etwas zu sagen.“
„Einen Dschungel?“, fragte Laura Bartow lachend. „Und eine Bestie mit zwei Schwänzen? Darunter kann ich mir aber gar nichts vorstellen.“
Bomba berichtete von den Geschehnissen im Zoo, und seine Mutter musste immer wieder ein Lächeln unterdrücken, als er von ihrer Begegnung mit dem Parkwächter erzählte. Doch sie gab sich Mühe, ernst zu bleiben, um die Gefühle von Bomba und Gibo nicht zu verletzen.
„Ein großes Glück, dass der Parkwächter zur rechten Zeit gekommen ist“, erklärte sie, als Bomba seinen Bericht beendet hatte. „Der Mann hatte ganz recht: wir hätten große Unannehmlichkeiten bekommen, wenn es dir eingefallen wäre, eines der Tiere zu töten.“
„Aber — aber warum hast du mir noch nie etwas von diesem Park mit den vielen Tieren erzählt?“, fragte Bomba verwirrt und ein wenig vorwurfvoll.
Laura