war noch übrig. Hillalum schrie: »Wenn diese Kammer voll ist, können wir himmelwärts schwimmen.«
Er wusste nicht, ob die anderen ihn gehört hatten. Als das Wasser die Decke erreichte, holte er ein letztes Mal Luft und schwamm durch den Riss. Er würde näher am Himmel sterben als je ein Mensch zuvor.
Der Spalt zog sich viele Ellen lang hin. Sobald Hillalum ihn durchquert hatte, entglitt die Steinschicht seinen Fingern, und seine zappelnden Glieder berührten nichts mehr. Einen Moment lang spürte er, wie eine Strömung ihn erfasste, dann war er sich dessen nicht mehr sicher. Nur von Schwärze umgeben, überkam ihn wieder dieses entsetzliche Schwindelgefühl, das ihn beim ersten Anblick des Himmelsgewölbes ergriffen hatte: Er wusste nicht mehr, wo oben und unten war, rechts oder links.
Er strampelte mit den Beinen, hätte aber nicht sagen können, ob er sich vorwärtsbewegte.
Womöglich trieb er hilflos in ruhigem Wasser, womöglich aber wurde er von einer rasenden Strömung herumgewirbelt; er spürte nichts außer betäubender Kälte. Nirgends sah er irgendein Licht. Hatte das Wasser des Speichers keine Oberfläche, wo er auftauchen könnte?
Dann stieß er wieder gegen Stein. Seine Hände ertasteten einen Riss in der Wand. War er wieder dort, woher er gekommen war? Er wurde gewaltsam hineingezogen und hatte keine Kraft mehr, sich dem zu widersetzen. Er wurde in den Tunnel gespült und gegen die Wände geworfen. Der Tunnel war unglaublich tief, wie ein langer Minenschacht. Seine Lungen fühlten sich an, als wollten sie bersten, doch der Tunnel nahm immer noch kein Ende. Schließlich konnte er nicht länger die Luft anhalten und atmete aus. Die Schwärze, die ihn umgab, drang in seine Lunge ein – er würde ertrinken.
Doch auf einmal wichen die Wände vor ihm zurück. Er wurde von einem tosenden Strom weitergetragen, spürte Luft über dem Wasser! Dann spürte er nichts mehr.
Hillalum erwachte mit dem Gesicht auf kaltem Stein. Er konnte nichts sehen, aber in der Nähe seiner Hände Wasser fühlen. Er drehte sich um und stöhnte; alles tat ihm weh, er war nackt und seine Haut an vielen Stellen aufgeschürft oder von der Nässe runzelig, doch er atmete Luft.
Nach einiger Zeit gelang es ihm schließlich aufzustehen. Wasser umfloss geschwind seine Knöchel. Ein Schritt in eine Richtung, und das Wasser wurde tiefer. In die andere Richtung, und er stand auf trockenem Stein – Schiefer, dem Gefühl nach.
Es war völlig dunkel, wie in einer Mine ohne Fackeln. Mit geschundenen Fingerspitzen tastete er sich den Boden entlang, bis dieser anstieg und eine Wand bildete. Langsam, wie ein blindes Geschöpf, kroch er umher. Er fand den Ursprung des Wassers, eine große Öffnung im Boden. Da fiel ihm alles wieder ein! Durch dieses Loch war er vom Speicher ausgespuckt worden. Er kroch, stundenlang, wie er glaubte, weiter; wenn er in einer Höhle war, dann war sie riesig.
Er gelangte an eine Stelle, wo der Boden schräg anstieg. Gab es da einen Durchgang, der nach oben führte? Vielleicht würde er ihn zum Himmel führen.
Hillalum kroch weiter, ohne zu wissen, wie viel Zeit verstrich, und es war ihm egal, dass er nie zurückfinden würde, denn dort gab es kein Durchkommen. Er folgte, wenn möglich, einem Tunnel nach oben, und wenn er keine andere Wahl hatte, Gängen nach unten. Obwohl er vor Kurzem mehr Wasser geschluckt hatte, als er für möglich gehalten hatte, begann er durstig zu werden und hungrig.
Und schließlich sah er Licht und rannte darauf zu und ins Freie hinaus.
Das Licht ließ ihn die Augen schließen, und er fiel auf die Knie, die Fäuste vor dem Gesicht geballt. War dies Jahwes strahlender Glanz? Würden seine Augen es ertragen, ihn anzuschauen? Minuten später konnte er die Augen öffnen und erblickte eine Wüste. Er war aus einer Höhle am Fuße einiger Berge gekommen, und Steine und Sand erstreckten sich bis zum Horizont.
War es im Himmel genauso wie auf Erden? Wohnte Jahwe an einem Ort wie diesem? Oder war dies lediglich ein weiteres Reich in der Schöpfung Jahwes, eine andere Erde über seiner eigenen, und Jahwes Heimstatt befand sich noch weiter oben?
Eine Sonne stand über den Bergspitzen hinter ihm. Ging sie gerade auf oder unter? Gab es hier Tage und Nächte?
Hillalum spähte in die Sandlandschaft hinaus. Am Horizont bewegte sich eine Linie. War das eine Karawane?
Er rannte darauf zu, schrie aus trockener Kehle, bis das Verlangen nach Luft ihm Einhalt gebot. Eine Gestalt am Ende der Karawane bemerkte ihn und brachte die ganze Kolonne dazu anzuhalten. Hillalum rannte weiter.
Die Gestalt, die ihn gesehen hatte, schien ein Mann zu sein, kein Geist, und dieser Mann war wie ein Wüstenbewohner gekleidet. Er hielt einen Wasserschlauch bereit. Hillalum trank, so gut er es vermochte, während er japsend nach Luft schnappte.
Schließlich gab er dem Mann den Schlauch zurück und keuchte: »Wo bin ich hier?«
»Seid Ihr von Räubern überfallen worden? Wir sind unterwegs nach Erech.«
Hillalum starrte ihn ungläubig an. »Ihr wollt mich zum Narren halten!«, rief er. Der Mann wich zurück und sah ihn an, als hätte die Sonne ihm den Verstand geraubt. Hillalum bemerkte, dass ein weiterer Mann von der Karawane herüberkam, um nachzuschauen, was los war. »Erech liegt in Shinar!«
»Das ist richtig, ja. Wart Ihr nicht nach Shinar unterwegs?« Der Mann hielt einen Stab in der Hand und musterte ihn misstrauisch.
»Ich komme von … ich war in …« Hillalum hielt inne. »Kennt ihr Babylon?«
»Ach, da wollt Ihr hin? Das liegt nördlich von Erech. Von dort kommt Ihr leicht nach Babylon.«
»Der Turm. Habt Ihr von ihm gehört?«
»Natürlich, die Säule des Himmels. Es heißt, die Männer an der Spitze würden einen Tunnel durch das Himmelsgewölbe graben.«
Hillalum sank in den Sand nieder.
»Ist Euch nicht wohl?« Die beiden Karawanenführer unterhielten sich leise und gingen fort, um sich mit den anderen zu beraten. Hillalum achtete nicht auf sie.
Er war in Shinar. Er war zur Erde zurückgekehrt. Er war über die Speicher des Himmels hinausgeklettert und wieder auf der Erde angekommen. Hatte Jahwe ihn an diesen Ort geführt, um zu verhindern, dass er höher hinauf gelangte? Hillalum hatte jedoch immer noch keine Zeichen gesehen, irgendeinen Hinweis, dass Jahwe ihn überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Er hatte kein Wunder Jahwes erfahren, das ihn hierher gebracht hatte. Soweit er es verstand, war er nur durch den Speicher nach oben geschwommen, in die Höhle unter dem Berg.
Irgendwie lag das Himmelsgewölbe unter der Erde. Allem Anschein nach lagen beide nebeneinander, obwohl viele Meilen sie voneinander trennten. Wie war das möglich? Wie konnten sich zwei Orte berühren, die so weit voneinander entfernt waren? Hillalum tat der Kopf weh, als er versuchte, das zu begreifen.
Doch da wurde ihm plötzlich klar: Es war wie ein Siegelzylinder. Wenn man ihn über weichen Lehm rollte, hinterließ er einen Abdruck, der ein Bild ergab. Auf dem Bild mochten sich zwei Figuren an gegenüberliegenden Seiten befinden, aber auf der Oberfläche des Zylinders lagen sie gleich nebeneinander. Die ganze Welt war ein solcher Zylinder. Die Menschen glaubten, dass sich Himmel und Erde an den entgegengesetzten Rändern eines Bildes befanden, mit dem Firmament und den Sternen dazwischen. Doch die Welt war auf irgendeine wundersame Weise so gekrümmt, dass Himmel und Erde einander berührten.
Nun wurde ihm klar, warum Jahwe den Turm nicht zerstört und die Menschen nicht bestraft hatte für ihr Bestreben, die ihnen gesetzten Grenzen zu überschreiten: Jede Reise, und mochte sie noch so lang sein, würde sie doch nur wieder zurück an den Ort führen, von dem sie aufgebrochen waren. Jahrhunderte harter Arbeit konnten ihnen nicht mehr enthüllen, als sie bereits wussten. Doch dank ihrer Anstrengungen würden die Menschen einen Blick auf die unvorstellbare Kunstfertigkeit von Jahwes Schöpfung erhaschen können, indem sie sahen, wie sinnreich die Welt geschaffen war. In ihrem Bau spiegelte sich Jahwes Werk, und doch blieb Jahwes Werk verborgen.
Und so würden die Menschen ihren Platz erkennen.
Hillalum erhob sich, die Beine noch ganz unsicher vor Ehrfurcht, und wandte sich den Karawanenreisenden zu. Er