Roy Jacobsen

Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte


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und einem winzigkleinen hellblauen Koffer.

      »Danke, danke«, rief Mutter dem Schaffner zu, und der sagte:

      »Keine Ursache«, und »war mir ein Vergnügen«, und noch andere Dinge, bei denen Mutter nur noch röter anlief, während sie sich die Haare glattstrich, und ich lief herum und starrte den Neuankömmling an, Linda, die sich als klein und dick und friedlich herausstellte und deren Blick sich in den Asphalt bohrte.

      Der Bus fuhr endlich weiter und Mutter ging vor unserem neuen Familienmitglied in die Knie und versuchte, Blickkontakt zu ihr aufzunehmen, ohne sonderlichen Erfolg, soweit ich sehen konnte. Aber dann konnte sie einfach nicht mehr, Mutter, meine ich, und sie umarmte das unbeholfene Wesen auf eine Weise, die mich arg bedenklich stimmte. Aber Linda reagierte auch darauf nicht, und Mutter wischte sich die Tränen ab und sagte, wie immer, wenn sie sich schämt:

      »Nein, was mach ich denn nur, kommt, dann gehen wir zu Omar Hansen und kaufen Schokolade. Möchtest du Schokolade, Linda?«

      Linda war mit Stummheit geschlagen. Sie roch seltsam, hatte ungekämmte, struppige Haare und einen Pony, der ihr tief ins Gesicht hing. Aber sie schob ihre Hand in Mutters und umklammerte zwei Finger, so dass ihre Knöchel weiß wurden. Und abermals konnte Mutter nicht mehr. Und das konnte ich nicht länger mit ansehen, diesen Griff, von dem ich instinktiv begriff, dass es ein Griff fürs Leben war, der fast alles verändern würde, nicht nur in Lindas Dasein, sondern auch in meinem und Mutters, es war so ein Griff, der sich um dein Herz schließt und es wie in einem Schraubstock festhält, bis du krepierst, und der auch noch da ist, wenn du im Grabe liegst und verfaulst. Ich riss den kleinen himmelblauen Koffer an mich, der fast nichts wog, und schwenkte ihn über meinem Kopf.

      »Die fragt, ob du Schokolade willst«, rief ich. »Hörst du schlecht?«

      Linda fuhr zusammen und Mutter bedachte mich mit einem ihrer mörderischen Blicke, die wir normalerweise nur in größeren Menschenansammlungen tauschen. Ich verstand den Wink und lief zwei Schritte hinter ihnen her, als wir den Hang hoch gingen, Mutter jetzt mit aufgesetzt freundlicher und viel zu lauter Stimme, die sagte:

      »Da drüben werden wir wohnen, Linda«, und zeigte durch die Auspuffgase über dem Trondhjemsvei.

      »Im zweiten Stock da hinten, mit den grünen Vorhängen, das Haus heißt der Dreier, es ist der drittunterste Block, einer der ersten, die gebaut worden sind ...«

      Und eine Menge andren Unsinn, zu dem Linda nichts zu sagen hatte, auch dazu nicht.

      Aber als sie und ich dann unsere Schokolade bekommen hatten, ging es ein bisschen besser, denn Linda langte überaus gierig zu und lächelte auch, eher verwirrt als glücklich, und das machte sie ein wenig weniger armselig, ja, Mutter fand offenbar, dass sie die Schokolade etwas zu gierig verzehrte, dass es damit an Linda etwas auszusetzen gab, oder etwas, das man sich anders gewünscht hätte, und ich glaube, das war gut für uns alle, denn Linda hatte noch immer nichts gesagt. Das tat sie erst, als wir zur Tür hereinkamen.

      »Bett«, sagte sie.

      »Ja«, sagte Mutter verwirrt. »Da wirst du schlafen.«

      Worauf Linda den Eisengriff um Mutters Finger löste und ins Bett kletterte und sich hinlegte und die Augen schloss, während Mutter und ich stehen blieben und diesem Spiel zusahen, nach und nach immer verwunderter, denn es war kein Spiel, Linda schlief wie ein Stein.

      Mutter sagte, Ja, Ja, und deckte sie zu und blieb auf der Bettkante sitzen und streichelte ihre Haare und ihre Wange. Dann ging sie hinaus und ließ sich am Küchentisch auf einen Stuhl fallen, als ob sie soeben aus dem Krieg heimgekehrt wäre.

      »Sie ist sicher total erschöpft, die Arme. Einfach zu uns zu kommen. Ganz allein ...«

      Auch für diese Argumentation hatte ich kein Verständnis, denn was sollte zum Beispiel besser sein, als zu uns zu kommen, in ein Bett, das schon dreimal neu gemacht worden war, ohne dass jemand darin gelegen hätte? Das sagte ich auch, ich zeigte Mutter, dass ich unser neues Familienmitglied schon ziemlich satt hatte.

      Aber das hörte sie nicht, sie hatte das blaue Köfferchen geöffnet und einen Brief gefunden, eine Art Gebrauchsanweisung, wie sich herausstellte, darin stand mit gerader Handschrift, was Linda gern tat – spielen (!) und essen: Kunsthonig und Kümmelkäse und Soße und Kartoffeln; Fisch und Fleisch und Gemüse mochte sie weniger gern. Es stand dort aber auch, wir sollten »nicht zu viel Essen in das Kind hineinstopfen«. Außerdem hatte sie eine Schwäche am linken Knie, deshalb musste sie Medizin nehmen, Pillen, die in Dosen steckten, auf denen Lindas Name stand, und Mutter fand auch die im Koffer und hielt sie ins Licht, um sie sich genauer anzusehen, zwei Pillen jeden Abend, oder drei. »Und sie muss ein ganzes Glas Wasser dazu trinken«, stand in dem Brief, »gleich vor dem Schlafengehen, sonst steht sie nachts auf und geht zum Kühlschrank.«

      Und wieder konnte Mutter nicht mehr.

      »Großer Gott.«

      »Was ist los?«, fragte ich.

      »Wie traurig!«, stöhnte sie.

      Ich begriff noch immer nichts, konnte nur wiederholen:

      »Was ist denn los?«

      »Und sie hat solche Ähnlichkeit mit ihm!«

      »Ähnlichkeit mit wem?«, schrie ich und merkte, dass ich wirklich abstürzte, nicht aufgrund dessen, was sie sagte, sondern weil sie so aussah. Sie sprach natürlich über den Kranführer, Lindas Vater, meinen Vater, die Scheißursache für dieses Geheule, den Mann, der, ehe er heruntergefallen war, so viel Chaos hatte veranstalten können, dass wir nicht mehr wussten, was oben und was unten war. Und als wäre das nicht genug gewesen, kam nun auch noch Kristian nach Hause und hörte aus der Diele, dass irgendetwas nicht stimmte, und fragte, was um alles in der Welt ist denn hier los?

      »Das geht dich einen feuchten Kehricht an!«, schrie Mutter total außer sich und gab sich keinerlei Mühe, ihr tränennasses Gesicht zu verbergen. »Mach, dass du wegkommst! Hörst du? Und lass dich hier ja nie wieder blicken!«

      Kristian schaffte das Kunststück, zu begreifen, dass das hier ein Ausnahmezustand war, und zog sich ruhig zurück. Anders als ich.

      »Aber mit wem hab ich denn dann Ähnlichkeit?«, rief ich. »Du hast nie gesagt, dass ich mit irgendwem Ähnlichkeit habe!«

      »Was bildest du dir denn ein.«

      Ich war ein anderer und begriff das erst, als ich ihre Hand packte und die Zähne in die beiden Finger bohrte, die Linda mit Beschlag belegt hatte, und so fest zubiss, wie ich nur konnte, damit sie wirklich einen Grund zum Schreien hätte. Sie verpasste mir mit der flachen Hand eine Ohrfeige, hart und gründlich, was sie noch nie getan hatte, und wir starrten einander noch mehr wie verwandelt an. Ich spürte sogar in meinem unerträglichen Gesicht ein starres Lächeln und eine beißende Kälte.

      Ich erbrach mich zwischen uns auf den Boden und ging ruhig hinaus in die Diele und zog meinen Mantel an und ging hinaus auf die Straße zu den anderen, zu denen, die kein Zuhause hatten, wie es aussehen konnte, denn sie waren jedenfalls nie zu Hause, die Großen und Verlorenen, Raymond Wackarnagel und Ove Jøn etcetera ... und an diesem Abend schlugen wir die Fensterscheiben in der Eingangstür von Zweier und Vierer und Sechser und Siebener und Elfer ein und auch das Fensterchen von Liens Lager, wo Griesmehl und Drehtabak aufbewahrt wurden. Niemals wurden an einem einzigen Samstagabend in Tonsenjordet noch mehr Scheiben eingeschlagen. Und vielleicht war ich der Einzige, der wusste, warum, oder der zumindest einen Grund hatte, ein stummes und seltsames Wesen, das zu Hause lag und in unserem neuen Etagenbett schlief; die anderen taten es wohl aus alter Gewohnheit, oder weil es in ihrer Natur lag, in meiner lag es einwandfrei nicht.

      An den folgenden Tagen war die Hölle los, mit Ermittlungen und Hausmeister und Genossenschaftsvorsitzendem. Es war ja nun kein Problem, festzustellen, wer es gewesen war, es waren die üblichen Verdächtigen, Ove Jøn und Raymond Wackarnagel etcetera. Das Mysterium war ich, der noch niemals etwas angestellt hatte, sondern als Muttersöhnchen galt, und nicht nur, weil mir der Vater fehlte, sondern auch, weil ich ein ausgeglichener Junge war, ein munterer Junge mit beiden Füßen auf dem Boden und einem hellen Kopf, wie Frau Henriksen unter meine