unberechenbarer Teufel auf der Lauer?
Das gab Kristian die Möglichkeit, sich wieder einzuschalten.
»Scheiß drauf«, sagte er zum Genossenschaftsvorsitzenden Jørgensen, der breit und fesch in unserer Diele stand und mit Mutter darüber sprach, wie man den Pöbel zur Raison brachte. »Mit dem Jungen ist alles in Ordnung.«
»Woher willst du das denn wissen?«, fragte sofort Mutter, die es aus gegebenen Anlass für nötig gehalten hatte, sich mit Jørgensen ein wenig zu verbünden, das kann sie aus dem Effeff, meine Mutter, wenn es sein muss, das kommt von ihrer Kindheit, als jüngstes von vier Geschwistern, aus Torshov, mit einem Vater, der offenbar viel getrunken hatte, und einer Mutter, die sich nach dem Tod des Vaters in seinen Sessel gesetzt und ebenfalls das Trinken angefangen hatte.
»Das können doch alle sehen«, sagte Kristian mit seiner unbesiegbaren Gewerkschaftsstimme, »wenn sie noch bei Verstand sind.«
Sicherheitshalber legte er mir auch die Hand auf den Kopf und lächelte, Gott weiß, worüber, und ging summend in sein Zimmer.
Mutter blieb mit verschränkten Armen stehen und spielte an dem Verband herum, den sie um zwei schmerzende Finger gewickelt hatte, die Lindafinger, jetzt ein wenig unsicherer, was die unheilige Allianz anging, die sie mit Jørgensen eingegangen war, einem Mann, der entschied, wann die Heizkörper ausgelüftet werden sollten und wann die Tretschlitten zusammengelegt wurden, ehe sie für den Sommer im Luftschutzraum eingelagert wurden.
»Na gut, wir wollen ja auch nicht übertreiben«, sagte sie und schaute in eine andere Richtung. Und mehr war nicht nötig, denn nun fing auch ich wieder an zu flennen und mir rutschte heraus, dass ich das Fenster im Elfer bezahlen würde, denn nur das hatte ich eingeschlagen, von meinen Ersparnissen.
Mutter musterte mich gerührt und Jørgensen begriff, dass die Verhandlungen beendet waren, aber er blieb trotzdem stehen, wie um klarzustellen, dass er und nicht Mutter bestimmte, wann er zu gehen hatte, um nicht zu sagen, wann der Fall als geklärt gelten könnte; als er das klargestellt hatte, ging er.
Mutter konnte sich nun an einen langen Vortrag darüber machen, dass ich einen großen Bogen um die Bande auf der Straße zu machen hätte, und was ich mir dabei gedacht hätte und so weiter. Aber das alles war normal, ganz anders als das komplett Unbegreifliche, das uns an dem Tag getroffen hatte, an dem Linda gekommen war, dem vergangenen Samstag.
Jetzt wartete sie am Küchentisch.
Auf das Abendbrot.
Entsprechend der Gebrauchsanweisung in dem blauen Koffer hatten wir die Aufgaben schon so verteilt, dass Mutter die Brote schmierte und sie auf zwei Teller verteilte und diese neben unsere Milchgläser vor uns stellte. Gleich viele Schnitten auf jeden Teller, zweieinhalb, mit dem Aufstrich, den wir uns wünschten, während Mutter nur eine aß, mit Sirup, was sie an ihre Kindheit erinnerte, oder eher daran, wovon sie nie genug bekommen hatte, denn bei ihnen war der sogenannte Schmalhans Küchenmeister gewesen. Sie stand vor der Anrichte und machte sich zugleich an irgendetwas in einem Schrank oder im Spülbecken zu schaffen, und ab und zu sagte sie etwas Witziges. Und Linda bekam keine weiteren Brote, egal, wie sehr sie Mutter mit stillen langen Blicken ansah, die normalerweise die stärkste Willenskraft bezwungen hätten, ja, auch wenn sie längst nicht mehr so gierig zulangte wie an Tag 1, und wenn sie außerdem begriffen hatte, dass sie nicht die ganze Hand auf den Aufstrich legen durfte, auf den Kunsthonig zum Beispiel.
Ich merkte, auch wenn ich gerade an diesem Abend gern noch eine Schnitte gehabt hätte und wenn es bei uns nie ein Thema gewesen war, ob ich ein, zwei oder sechs aß, dass ich es doch nicht erwähnte, was mir einen beifälligen Blick von Mutter eintrug, denn wir waren in der Aufgabe miteinander verschmolzen, die Anweisungen im Brief zu befolgen. Linda begriff, was Sache war.
»Lesen«, sagte sie.
Und dann wurde gelesen. Aber zuerst wurde der Tisch abgeräumt und gespült, wenn wir das so nennen können, denn Linda war vollauf damit beschäftigt, auf dem Hocker zu stehen – von dem ich hatte weichen müssen – mit den Händen im Seifenwasser herumzuplatschen, während ich gründlicher als sonst spülte und merkte, dass sie jetzt nicht mehr seltsam roch, sie roch nach gar nichts, so wie ich. Sie war außerdem gekämmt, hatte kürzere Haare und trug eine hellblaue Haarspange, die den Pony aus ihren großen Augen hielt, die sie nun nicht mehr verbergen konnte. Mutter fragte, ob sie ein Lied kenne. Linda murmelte nach einigem Hin und Her einen Titel, den ich noch nie gehört hatte, aber Mutter lächelte und summte und konnte zwei Strophen von genau diesem unbekannten Lied, während sie abtrocknete und wegräumte, und Linda lächelte verschämt ins Spülwasser und bekam rote Wangen, was wir für ein gutes Zeichen hielten, denn um ehrlich zu sein, hatte sie noch nicht viel gelächelt, seit sie gekommen war.
Auch das Lesen hatte sich um einiges verändert, jetzt waren wieder die Bobbsey-Zwillinge angesagt, die ich reichlich satt hatte, eine Bande von Kindern, die dermaßen viele Eltern und Onkel und Tanten hatte, dass es nicht zu fassen war, und Mette-Marit in der Ballettschule, was Mutter als kleines Kind gelesen hatte und was sie auch mir hatte aufschwatzen wollen, ich konnte Mette-Marit nicht ausstehen. Außerdem wollte Linda nicht sehr viel lesen, sondern die ersten anderthalb Seiten immer wieder hören, als ob sie den Faden verlor, wenn die Erzählung erst in Gang kam, oder vielleicht, weil sie eine besondere Vorliebe für Wiederholungen hegte.
Aber es hat eine eigene Stimmung, so unter der Zimmerdecke zu liegen, mit den Armen unter dem Kopf, und zu wissen, dass du deine eigenen Bedürfnisse für dich behalten musst, wenn du nur weißt, dass das geschätzt wird, und dafür sorgte meine Mutter, mit einem neuen Blick, den sie sich zugelegt hatte; wir waren wie gesagt zu einem Team geworden, mit dem Auftrag, uns um einen Menschen zu kümmern, den wir noch nicht ganz durchschauten, und das würde auch noch dauern, nämlich mehr als drei Monate.
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