Franz Werfel

Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman


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Augen eine Zeitlang das berufliche Niladmirari zu verstehn gegeben hatten, fragte er mich mit leiser und brummender Stimme:

      „Haben Sie Ihre Entscheidung getroffen, Seigneur?“

      Die gelangweilte Miene des Uranographen und seine gleichgültige Stimme, die vermutlich ausdrücken wollte, daß er an mich ebensowenig glaubte wie an alle andern Fakten, die er mit seinem abgenagten Bleistiftstummel an den Himmel schrieb, diese Miene und diese Stimme gaben mir, indem sie mich beleidigten, eine gar köstliche Frische und Energie:

      „Die Gedankengänge Io-Sums und Io-Claps“, sagte ich, „sind beide in sich geschlossen und voll vertretbar.“

      Ein schwacher Schimmer von Aufmerksamkeit glomm im Blick des Uranographen auf:

      „Soll das heißen, Seigneur“, fragte er, „daß Sie den Wettkampf für unentschieden erklären?“

      „Nein“, erwiderte ich mit leichtem Nachdruck. „Ich erkläre ihn für entschieden, und zwar zugunsten Professor Io-Sums.“

      Der Uranograph gähnte. Es war der erste Mensch des Zeitalters, den ich auf dieser physischen Reaktion der Abgespanntheit ertappte.

      „Und welche Begründung“, fragte er, „haben Sie für Ihren inappellablen Urteilsspruch, Seigneur?“

      „Eine sehr einfache und sehr schlüssige“, sagte ich langsam, Wort für Wort setzend, während mir das Herz warm wurde vor lauter oxydierendem Rechthaben, „Sophistes Io-Sum hat nur achtundfünfzig Worte zur Formulierung seines Gedankens verarbeitet, Sophistes Io-Clap hingegen hat hundertsiebenundvierzig Worte zur selben Konzentration nötig gehabt. Der Gedanke Io-Claps, der außerdem kein unabhängiger Grundsatz ist, sondern nur eine Widerlegung, ist daher um neunundachtzig Worte schwächer als der Gedanke Io-Sums. Rechnen wir zehn Worte als einen Punkt, so hat Sophistes Io-Sum in der letzten Runde neun Punkte gewonnen und somit in diesem Match über Sophistes Io-Clap vierundzwanzig zu siebzehn gesiegt.“

      Der Bleistiftstummel des Uranographen flog über den Käszettel, so daß das hinkende Schreibpult noch mehr wackelte als vorher; als völlig uninteressierter Redakteur zeichnete er die Arithmetik meiner Wahrheitsfindung getreu nach, ohne sie anzuerkennen oder zu verwerfen. Ich freilich war sehr stolz auf mein Urteil als Umpire. Die Formel meiner Wahrheitsfindung lautete mir im eigenen Ohr wie ein Newtonscher Grundsatz: „Zwischen zwei Wahrheiten, die demselben Thema zur Erkenntnis dienen, ist diejenige mit der gelben Handgelenkschleife preiszukrönen, welche weniger Worte und Silben zu ihrem Ausdruck vonnöten hat . . .“

      Jetzt, lang nach meiner Rückkehr aus jener zukünftigen Gegenwart in unsere gegenwärtige Gegenwart, finde ich den lauten Erfolg meines Wahrspruchs sowohl unverständlich als auch übertrieben. Das mit der Wortzahl als Gradmesser der Wahrheit war doch eher ein leichtfertiger Witz als ein ehrliches Prinzip philosophischen Forschens, zumal im Hinblick auf Ernst und Erhabenheit unserer Streitfrage. Sei es wie es sei, dort und damals, im fast taghellen Sternlicht empfand ich heitere Genugtuung darüber, daß ich mich nicht blamiert, sondern trefflich aus der Affäre gezogen und dazu noch ein neues Prinzip aufgestellt hatte. Das Verwunderliche war, daß dieses Prinzip — wer zu viel Worte macht, hat als Philosoph verloren — „der Menge“ auf dem ungeheuren Geodrom sofort einleuchtete. Applaus und metallenes Beifallsgetrampel von abertausend Schlittschuhen wirkte elementar. Es war gerade das Pointierte, Ironische, der leichtgeschürzte Ernst meines Urteils, was dem mentalen Zeitalter gefiel, das vor heftigen Berührungen durch Geist und Gefühl zurückschauderte. Überdies schätzte man mehr das Äquivalent für attisches Salz und gallische Würze als das für deutsche Gründlichkeit, wie es sich im Sophistes Io-Clap durch die Jahrzehntausende fortgeerbt zu haben schien. In dem Beifall, den ich erntete, mochte sich sogar Überdruß an den Professoren und am ewigen Thema dieses Wettstreits entladen. Eines aber muß immer wieder gesagt werden: Heute — ich spreche von der Zeit, in der ich diese Seiten schreibe —, heute wäre die öffentliche Diskussion eines solchen Themas vor dem breitesten Publikum der Welt eine blanke Unmöglichkeit, da nur einzelne und wenige den Bildungsgrad, den Sprachschatz, die Freiheit von materiellen Vorstellungen und die geistige Entwicklungsstufe besitzen, um einer philosophischen Deduktion überhaupt folgen zu können. Damals — ich spreche von jenem Abend, der in rund hunderttausend Jahren kommen wird — besaß diese Freiheit von materiellen Vorstellungen und diesen Bildungsgrad so gut wie jedermann, da schon seit grauestem Menschengedenken jedermanns Zeit ausschließlich aus freier Zeit bestand, und die Menschheit, nachdem sie die Natur gebändigt hatte, ohne intimen Umgang mit dem Geisterreich und dem Reich des Geistes an Langerweile verreckt wäre. Die Sache mit meinem unerwarteten Erfolg lag aber noch verwickelter. Ich hatte zwischen zwei Typen zu richten gehabt. Von diesen beiden Typen war Io-Sum der Einfache, der Gläubige, der Inspirierte, Io-Clap der Intellektuelle, der Ungläubige, der Skeptiker. Diese beiden Typen repräsentierten, wie mir bald aufzudämmern begann, einen uralten Zwist, der auch durch die gegenwärtige Menschheit ging. Ich hatte Io-Sum, dem Inspirierten, meinen Kranz gereicht. Bald wurde mir durch die schlecht verhehlte Verstimmtheit des Wortführers, des Hausweisen und des Beständigen Gastes klar, daß ich wider den Wunsch dieser meiner neuen Freunde das Urteil gefällt hatte. Die Junggesellen gehörten alle der älteren und ältesten Generation an. Io-Fagòr, der Brautvater, hatte ja während des Festmahles seiner Madame Urgroßmama, der allerschönsten Ahnfrau, das Kompliment gemacht, man habe nur zu ihrer Jugendzeit das richtige Leben gelebt. Zugleich aber hatte derselbe Io-Fagòr die Dekadenz der modernen Jugend darin erkannt, daß sie nicht mehr dem reinen Spiel ergeben sei, sondern in überwundene Leidenschaften zurückzusinken drohe, ähnlich wie auf dem vom eisengrauen Rasen vernunftvoll bedeckten Erdball da und dort jene absonderlichen Dschungel aufplatzten, mit ihren „Hühnern und Gockelhähnen“ und, wie Io-Fagòr es genannt hatte, dem „säuischen Getümmel“. Für das Zurücksinken in überwundene Leidenschaften hatte mir Bräutigam Io-Do durch seine kriegerische Sammlung und seinen Spleen für Fernsubstanzzertrümmerer und Pulverflinten ein überraschendes Exempel gegeben. Mir schwante also bereits am ersten Abend meines Aufenthaltes, daß die älteren Leute hier einer Art von Rokoko, einem ancien régime nachtrauerten, in welchem das mentale Zeitalter die leichten Farben bevorzugt hatte (das Hellgrün und Blaßblau der Reisekügelchen), daß aber die Jugend nunmehr schwerere und tiefere Tinten ins Leben zu schmuggeln begann, vielleicht, wer weiß es, sogar ein veritables Blutrot.

      Während all diese Widersprüche mein trotz aller Strapazen überklares Hirn durchzuckten, das unbeschadet so langer trainingsloser Nicht-Existenz sich den enormen Anforderungen dieses Tages nicht minder gewachsen zeigte als mein Körper, flogen wir, unsere Hausgruppe und ich, kreuz und quer durch die applaudierende und schleierschwenkende Menge über die zentrale Plaza. Ich nahm gleichsam auf diese Weise dem fremden Zeitalter die Parade ab, ähnlich wie einst hohe Staatsbesuche es gemacht hatten, Könige, Präsidenten, Prinzen, Marschälle, Premierminister, wenn sie an der Spitze ihrer Eskorte die Ehrenkompanien abschritten oder abritten. Am meisten schien meinen Erfolg Bräutigam Io-Do zu genießen, der schließlich die unmittelbare Ursache dieses Erfolgs war und ihn auf das Konto seines großen Lebensfestes setzen konnte. Zeremonienmeister aber war diesmal nicht der Wortführer, der sich noch immer verschnupft zeigte, weil ich in meinem Verdikt dem Skeptizismus und Agnostizismus ein Schnippchen geschlagen hatte, sondern der Beständige Gast, ich meine jenen, welcher in seiner plastisch silbernen Allongeperücke einem barocken Serenissimus glich. Jetzt sauste er an der Spitze unseres Trupps. Hie und da hob er die Hand, dann mußten wir unsern Hui unterbrechen. Sofort wurden wir von Neugierigen umrundet. Ein für mich neues Phänomen dieses astromentalen Zeitalters bestand auch darin, daß jeder jeden zu kennen schien. Wie wenige Millionen mochten es sein, auf welche das Menschengeschlecht zusammengeschrumpft war? Ohne Zweifel auf genau so viele wie zu seiner Fortfristung die gereifte Erkenntnis als notwendig festgestellt hatte. Es gab jedenfalls niemanden, der den andern nicht grüßte und von diesem nicht begrüßt wurde. Der Gruß, umständlich und überaus formell, gemahnte mich teils an die Art, wie zu meiner Zeit Chinesen sich begrüßt hatten, teils aber an den Gruß preußischer Offiziere bei Betreten eines Zimmers, denn man neigte den Kopf bei völlig steifem Oberkörper, um die gebrochene Linie zu vermeiden.

      B.H. begründete die zeremoniöse Intimität aller mit allen damit, daß die Menschen im Vollbewußtsein dessen, daß sie nicht irgendeiner im Kampf ums Dasein siegreichen Tierrasse angehörten, sondern die einzige Menschheit