zu bedienen, der den Sarg zum Auto fahren sollte. Wenn der Tote erst einmal im Sarg lag, hatte Pia Gott sei Dank nichts dagegen, dass ein Sargroller benutzt wurde. Erling bewegte sich geübt und routiniert, obwohl er hinkte, und Andreas erinnerte sich plötzlich daran, wie oft er ihn hatte trösten müssen, als sie noch gemeinsam zur Schule gingen, wo er permanent gemobbt wurde, weil er der Sohn eines Bestatters war, zu dick, ein hitziges Temperament hatte, stotterte und hinkte. Später fanden sie heraus, dass Erling nicht in eine gewöhnliche Klasse gehen konnte, und er kam in eine Förderklasse. Von da an war es fast so, als ob die anderen Angst vor ihm hatten. Der Junge war ja nicht normal. Andreas hatte oft selbst die gleiche Furcht verspürt, aber jetzt, als Erwachsener, merkte man Erling seine Andersartigkeit kaum mehr an. Bis er anfing zu stottern und einen mit diesen leicht schielenden, blassen Augen anschaute. Pia steuerte den Wagen in die richtige Richtung, eine Hand auf der Seite des Sarges, und Erling brachte ihn auf die Höhe des Kofferraums, sodass er auf Schienen leicht ins Auto gleiten konnte. Andreas sah neugierig zu. Er hatte die Arbeit seines Vaters nie verfolgt, wie es seine zwei Geschwister getan hatten. Nur Abstand davon genommen. Das bereute er nun, denn andernfalls hätte er jetzt nicht bei Pia in die Lehre gehen müssen.
Auf dem Weg zur Kirche erklärte Pia ihm den weiteren Ablauf. Er lauschte schweigend und nickte, wenn Pia ihm einen schnellen Blick zuwarf, sodass sie verstand, dass er zuhörte. Wenn der Sarg erst auf seinen Platz gesetzt und die Blumen arrangiert waren, hatten sie in der Kirche nichts mehr zu tun, bis sie später die Beileidskarten einsammeln würden, um sie der Angehörigen zu überreichen. Die Sträuße und Kränze würde der Totengräber nach der Zeremonie aufs Grab legen, das war dieses Mal nicht ihre Aufgabe, könnte es aber sonst auch mal sein.
»Die Witwe will nicht, dass wir an den Feierlichkeiten teilnehmen, daher ist dies einer der leichteren Aufträge«, lächelte Pia.
Sie saßen eine Weile schweigend da. Pia hatte nichts von dem Besuch der Polizei erwähnt, das wunderte ihn.
»Hast du gestern mit der Polizei gesprochen?«, fragte er.
Pia schaute ihn kurz an, bevor sie einen Bus überholte, der gerade eine Haltestelle anfuhr.
»Mit der Polizei? Nein, wie kommst Du darauf?«
»Ein Kriminalkommissar, der nicht ganz dänisch aussah, war gestern hier und wollte mit uns reden.«
»Worüber denn?« Pia schaute vom Rückspiegel auf.
»Keine Ahnung. Ich habe sie an dich verwiesen. Ich weiß ja nichts, jedenfalls noch nicht. Soviel ich weiß ging es um einen Verstorbenen, der verschwunden ist.«
Pia lachte heiser.
»Das klingt doch zu verrückt, findest du nicht? Ein Toter kann ja nicht einfach verschwinden. Aus dem Grab oder was?«
»Wie gesagt weiß ich es nicht. Ich dachte, er hätte dich kontaktiert. Er hat gesagt, das würde er tun.«
»Aha, hat er aber nicht. Vielleicht ist dieser Tote ja wieder aufgetaucht«, spottete sie mit einem schiefen Lächeln.
Sie hatten gerade die Vejlby-Risskov-Halle passiert und die Kirche beinahe erreicht, als ihr Handy klingelte. Pia nahm den Anruf entgegen, aber Andreas bemerkte, dass in ihrem Blick etwas aufflackerte, das sie vor ihm zu verbergen versuchte.
»Endlich«, sagte sie gedämpft. »Wann?«
Sie schielte zu ihm und lächelte entschuldigend. Sie waren angekommen, sie hielt den Wagen an und zog die Handbremse. Der Leichenwagen stand bereits an der strahlend weißen Kirche. Erling hatte die Hintertür geöffnet und den Sargroller nach draußen in den Kies gezogen.
»Steig aus und hilf Erling. Der Sarg muss an seinen Platz, bevor die Gäste ankommen. Ich bin gleich da«, flüsterte Pia gedämpft, während sie das Telefon ein Stück vom Ohr weghielt.
Andreas ging zur Kirche und half seinem Bruder dabei, den Sarg auf den Bahrwagen zu platzieren. Pia telefonierte im Auto immer noch. In das Gespräch war mehr Dynamik gekommen, nachdem er gegangen war. Wer hatte angerufen und derart großes Interesse bei seiner sonst so leidenschaftslosen Schwester geweckt?
10
Die Kriminaltechniker waren gerade eingetroffen und ein paar Beamte waren dabei, mit dem rot-weißen Band den Tatort abzusperren, als sie bei dem Haus ankam. Der Mord war im vierten Stock in einer Wohnung in der Grönnestraße passiert. Anne mochte diese Straße mit ihrer abwechslungsreichen Architektur sehr, von kleinen, gemütlichen Bauernhäusern mit Stockrosen am Mühlpfad über kasernenähnliche Gebäude und Fachwerkhäuser bis hin zu modernen Bauten gab es hier alles. Jetzt war dort ein Mord geschehen und in der stickigen, heißen Straße herrschte eine bedrückte Stimmung. Anwohner und Passanten versammelten sich allmählich zu einer kleinen Menschentraube und beobachteten das Geschehen neugierig. Sie konnte Benito nicht entdecken, daher wartete sie artig hinter dem Absperrband und machte ein paar Bilder von den Kriminaltechnikern und der Rechtsmedizinerin, die nun gemeinsam mit ihrem Fotografen ankam. Nicolaj und sie konnten es sich nicht leisten, einen Fotografen in ihrer kleinen Redaktion einzustellen. Selbst die großen waren jetzt in der Krisenzeit gezwungen gewesen, ihren professionellen Fotografen zu kündigen und ihre Journalisten selbst Fotos machen zu lassen. Und wie schwer konnte das mit einer Digitalkamera sein? Es war nicht länger der gebürtige Engländer Henry Leander, der sich in der Rechtsmedizin um die Toten kümmerte. Jetzt war es eine junge Frau. Die Zeiten änderten sich. Anne überlegte, ob sie Nicolajs Kontakt sein könnte. Kannten sie sich womöglich von früher? Sie sah genauso jung aus wie er. Die Rechtsmedizinerin ignorierte die Menschenmenge ganz professionell. Athletisch beugte sie sich unter dem Absperrband durch und ging mit ihrem großen, schwarzen Koffer in der Hand durch die Tür ins Haus hinein. Anne hatte Lust, mit hinein zu huschen und einige Bilder vom Opfer zu schießen, aber sie wusste, sie würde gestoppt werden, bevor sie auch nur einen Fuß hinter die Absperrung gesetzt hätte. Die beiden Beamten an der Tür beobachteten jeden Einzelnen der Anwesenden und Umherstehenden ganz genau. Es war nicht leicht, einen Mord geheim zu halten mitten in einer Stadt mit so vielen Touristen, noch dazu an einem warmen Dienstagvormittag, an dem viele Urlaub hatten. Dann kamen Roland Benito und sein beinahe glatzköpfiger Begleiter, den sie als Mikkel Jensen wiedererkannte. Keiner von ihnen schaute sie an, und sie sahen ebenfalls niemanden an. Ihre Gesichter waren vor Konzentration wie versteinert, als sie ins Treppenhaus gingen.
»Sie können mir wohl nicht ein bisschen darüber erzählen, was da drinnen passiert ist?«, fragte Anne einen der Beamten, die in ihrer Nähe standen. Die anderen Journalisten tauchten allmählich auf, jetzt ging es darum, schneller zu sein. Er schüttelte abweisend den Kopf. Andere versuchten ebenfalls, etwas aus den Beamten herauszulocken und hielten ihnen Mikrofone entgegen, aber ohne Ergebnis. Sie bekamen bloß die Anweisung, hinter dem Absperrband zu bleiben. Weitere kamen hinzu und riegelten den Verkehr ab. Autofahrer hupten ungeduldig, ein Radfahrer stürzte und schließlich musste ein Beamter auf die Straße gehen und die Leute wegscheuchen. Er wurde sofort von den Journalisten überfallen, als er aus seiner Umzäunung trat, aber Anne blieb in der Nähe des Treppenhauses. Sie wartete auf Benito. Als er endlich aus der Tür kam, war der Ernst ihm keineswegs aus dem Gesicht gewichen, und sein Blick wurde noch härter, als er sie entdeckte. Sein sonst so dunkler italienischer Teint wirkte ganz grau. Sie hatte ihn ganz für sich.
»Benito, du musst etwas darüber erzählen, was da passiert. Das ist der zweite Mord innerhalb von zwei Tagen. Junge Frauen kriegen langsam Angst, allein zu Hause zu bleiben. Kannst du etwas sagen, um sie zu beruhigen?« Sie hielt ihm das Diktiergerät hin. Er starrte es an, als ob es eine tödliche Waffe wäre.
»Woher weißt du, dass es sich um einen Mord handelt?«, fragte er, obwohl das ihre Vermutung nur bestätigen musste.
Sie zuckte die Schultern. »Man hört doch ein wenig, aber stimmt das? Ist es eine weitere Vergewaltigung mit Todesfolge? Der gleiche Täter?«
»Kein Kommentar, Anne.«
»Gibt es denn was Neues über die verschwundene Leiche? Damit müsst ihr doch vorangekommen sein. Haben die Fälle etwas miteinander zu tun?«
Andere Journalisten hatten den Kriminalkommissar entdeckt und waren zu ihnen hingeeilt, was zur Folge hatte, dass Roland das Tempo in Richtung seines