Die ethische Ambivalenz der Redegewalt zwischen legitimer Redemacht und illegitimer Gewalttätigkeit wurde schon in der rhetorischen Kulturentstehungslehre der Antike thematisiert, wie sich zeigte. Die Rhetorik beansprucht danach, das in der Vorzeit von Gewalt gekennzeichnete Naturverhalten der Menschen durch die Wirkung der Rede zu befrieden und in ein humanes, auf Kultivierung beruhendes Verhalten umzugestalten.111 Damit sei in doppelter Hinsicht ein ethischer Gewinn für die Menschheit erzielt worden: Erstens lässt sich jetzt die physische Gewaltanwendung in der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen durch den persuasiven Gebrauch der Sprache ersetzen, und zwar in dem Sinne, dass an die Stelle von Bemächtigung und Konflikt die sprachliche, auf Konsens oder Kompromiss setzende Interaktion zur Realisierung der jeweiligen Handlungsziele tritt. Zweitens entsteht aufgrund der Kultivierung bei den Menschen ein moralisches Bewusstsein von der Pflicht, physische Gewalt in ihren Auseinandersetzungen zu vermeiden. Doch zugleich muss dieses moralische Bewusstsein sich eingestehen, dass auch die Rhetorik ein Gewaltmoment enthält: ein psychisches, das ihrem persuasiven Handlungsimperativ innewohnt, der gleichfalls auf die Überwältigung der Adressaten ausgehen kann. Dieses Moment der Gewalt war der Antike wohlbekannt, wie das Beispiel der Sophistik zeigt. Daraus folgte unter dem Einfluss der Philosophie für die rhetorische Erziehungslehre, dass es die moralische Aufgabe des Redners ist, die Redemacht nur ethisch verantwortlich einzusetzen, wie Quintilians Propagierung des vir-bonus-Ideals belegt.
Festzuhalten ist damit, dass der Einsatz der Rede anstelle der Anwendung von physischer Gewalt ein ethischer Fortschritt ist, ja sogar eine zentrale moralische Forderung an die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens enthält. Festzuhalten ist ferner, dass die Rhetorik aufgrund des ihr inhärenten Gewaltmoments jedoch zugleich moralisch ambivalent ist und durch eine Ethik ergänzt werden muss, die dem Redner die bewusste und verantwortete Beherrschung des Gewaltmoments ermöglicht. Medium der Ethisierung der Rhetorik ist die Kultur. Infolgedessen stellt diese in den von ihr entwickelten sittlichen Verhältnissen alle die moralischen und juristischen Mittel bereit, die die Beherrschung von Gewalt in den durch die Rhetorik gestalteten zwischenmenschlichen Beziehungen regulieren und gegebenenfalls auch sanktionieren. Sie gewinnt damit selbst eine ethisch-normative Dimension.112 Die moralischen Postulate zur Beherrschung der persuasiven Gewalt können aber erst durch eine auf der menschlichen Kultivierung aufbauende Ethik formuliert werden.113 Kultur normativ aufladen heißt also nicht, moralische Normen schon aus der Kultivierung abzuleiten, denn die entstehen erst in den Überlegungen praktischer Vernunft zur Frage, nach welchen Regeln die Menschen zusammenleben wollen.114 Im Folgenden werden jetzt die einzelnen Teile einer rhetorischen Ethik beschrieben und dazu die jeweils relevanten kulturellen Aspekte wie Bildung, Institutionen, rhetorische Technik und die Darstellungsformen der Rede selbst behandelt.
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