Dialektik sei verständigungsorientiert, der Rhetorik aber gehe es um »Meinungsführerschaft«.35 Die Rhetorik werde außerdem bei Kopperschmidt als Akteur personifiziert. Doch sie bewirke für sich allein nichts und sei eine neutrale Technik. »Rhetorik steht also insofern in keinerlei alternativer oder konträrer Beziehung zur Gewalt; sie ist an sich völlig gewaltindifferent und als Technik nicht zugänglich für die Zuschreibung ethischer Prädikate oder Wirkungen.«36
Zinsmaiers Kritik an Kopperschmidts Gewaltsubstitutionshypothese verfährt sicher zu rigoros, wenn er das gewaltvermeidende Potential der Rhetorik gar nicht würdigt. Kulturell gesehen ist der Ersatz von physischer Gewalt durch rhetorisches Handeln zweifellos ein ethischer Fortschritt. Außerdem gibt es in Zinsmaiers Argumentation einen Widerspruch. Am Ende seines Aufsatzes stellt er fest, die rhetorische Technik sei gewaltindifferent, doch am Anfang spricht er von der »Macht der Rhetorik (oder genauer der Beredsamkeit)«37, die er dann anhand von »schwarzer« und »weißer« Rhetorik illustriert. Vielleicht lässt sich dieser Widerspruch handlungstheoretisch auflösen. Technik und Beredsamkeit stehen demnach nicht auf gleicher Ebene. Die Technik bzw. das technische System als Mittel der Beredsamkeit ist neutral; die Beredsamkeit selbst als eine ausgeübte Kunst, als Können und performance des Redners, aber enthält aufgrund ihrer persuasiven Intention ein Überwältigungspotential, das dem Redner die »Meinungsführerschaft« in der Debatte bringen soll.38 Damit wäre die Beredsamkeit das Organ der rhetorischen Gewaltausübung.
Wenn Zinsmaiers These vom Gewaltpotential der Beredsamkeit stimmt, stellt sich die Frage, ob der rhetorische Gewaltbegriff nicht noch genauer differenziert werden könnte. Aufschlussreich dazu sind einige der Gesichtspunkte, die Sybille Krämer in ihrer Analyse der Dimensionen sprachlicher Gewalt anführt. Zunächst stellt sie fest, dass das deutsche Wort »Gewalt« – anders als etwa engl. »violence« – in seiner Bedeutung die gegensätzlichen Elemente einer »rechtmäßigen, ordnungsstiftenden« und einer »unrechtmäßigen, zerstörerischen« Gewalt umfasst. Dieser Unterschied zeigt sich auch in der historischen Entwicklung des Begriffs. Im europäischen Mittelalter und in der frühen Neuzeit überwog die positive Bedeutung; seit dem 18. Jahrhundert aber ist ein Umschwung zu verzeichnen. Im Rahmen der Verrechtlichung des staatlichen Gewaltmonopols erscheint die Gewalt jetzt in doppelter Perspektive: einmal positiv als legitimes Mittel zur Durchsetzung des Rechts und einmal negativ als ein Verhalten, das die Rechte anderer verletzt.39 Eine weitere Bedeutungsverschiebung vollzieht sich im ausgehenden 20. Jahrhundert, und zwar durch die Entgrenzung des Begriffs: Nicht nur physische, auch psychische, strukturelle und moralische Formen der Zwangsausübung gelten jetzt als Manifestationen von Gewalt. Normative und evaluative Merkmale ersetzen damit die deskriptiven Gehalte des Gewaltbegriffs, was zu einem Verlust an Klarheit führt. Zugleich entsteht eine neue Aporie im Umgang mit Gewalthandlungen: Alle Mittel zu ihrer Einschränkung oder Bekämpfung führen letztlich zu mehr Kontrolle bzw. zur Begrenzung von persönlicher Freiheit und damit wiederum zu einem verstärkten Einsatz von Gewalt. Als Fazit aus der Janusköpfigkeit dieses Phänomens ergibt sich: Gewalt ist nicht mehr als das Gegenteil von Kultur, vielmehr als ihr unabdingbares Pendant zu verstehen, unhintergehbar verwoben mit unserer menschlichen Existenz und Lebensform, wobei symbolische Gewalt sogar als kulturelles Potential gelten kann.40
Sprache und Sprachgebrauch können physische Gewalt zwar beherrschbar machen oder ersetzen, sind dabei aber nicht einfach nur Mittel der Friedfertigkeit. Denn in der Sprachlichkeit jeder Mitteilung selbst findet sich nach Krämer schon eine Form von Gewaltsamkeit, und zwar in der Struktur von Prädikation, wie vor allem Benjamin, Adorno und Derrida herausgestellt haben. Sprache, die das Einzelne unter allgemeine Begriffe subsumiert und es einem Urteil unterwirft, verfährt gewaltsam, wogegen das Singuläre als Phänomen in seiner Einzigartigkeit doch unaussprechbar ist und bleibt. Trotz dieser Gewalt der Prädikation bleibt die begrifflich operierende und Urteile bildende Sprache jedoch das grundlegende und kulturstiftende Mittel der Kommunikation für den Menschen.41
Wichtig an Krämers Erörterung des Verhältnisses von Sprache und Gewalt ist schließlich noch die Abgrenzung von sprachlicher und körperlicher Gewaltanwendung. Während diese physisch in einer Richtung vorgeht und der Täter sein Opfer zum Gegenstand der Aggression macht, beruht jene auf einer psychischen Interaktion zwischen Täter und Opfer. Dessen Mitwirkung am Geschehen hat daher keine natürliche und kausale, sondern eine menschliche, und zwar soziale Dimension, wie sich am Effekt der verletzenden Rede zeigt. Wirkungskraft hat diese Rede nicht per se, als sprachliche Äußerung gegenüber jemand anderem, sondern ihr Verletzungspotential entsteht erst daraus, dass der andere und ob er auf sie reagiert, sie gewissermaßen aufgreift. Der verletzende, z. B. beleidigende Sinn solcher Äußerungen entsteht aus den konkreten Bezügen der Interaktionspartner zur menschlichen Lebenswelt, aus geschichtlichen Praktiken im Umgang mit der Sprache, kulturellen Gewohnheiten, individuellen Absichten des Sprechenden und subjektiven Dispositionen des oder der Angesprochenen. Außerdem sind Beleidigungen an Gefühle gebunden, weshalb nicht nur das Verstehen, sondern auch die Empfindung einer verletzenden Äußerung die Kränkung hervorbringt.42
Krämers Unterscheidung von rechtmäßiger und unrechtmäßiger Gewalt hat auch Bedeutung für die Rhetorik, weil man sie zum Ausgangspunkt der näheren Analyse von legitimer und illegitimer Wirkung einer Rede machen kann. Auch der Hinweis auf die grundlegende Bedeutung der Sprache für die Beherrschung von Gewalt ist wertvoll. Denn trotz des Gewaltpotentials der Prädikation bleibt die menschliche Kommunikation an den Gebrauch von Sprache gebunden und findet damit erst zur Möglichkeit ethischen Handelns. Fragwürdig ist allerdings, dass Krämer ihre Untersuchung des Gewaltcharakters der Sprache nicht wirklich auf die Rhetorik als die eigentlich in Frage kommende Sprachhandlungstheorie erweitert. Sie erwähnt zwar Beispiele einer »Rhetorik verletzenden Sprechens«43, aber untersucht nicht rhetorische Wirkung als Ursprung von Gewalt und Aggressivität. Auch manifestiert sich der Gewaltcharakter der Sprache nicht nur in der Verletzung, sondern ebenso in der Verführung des Adressaten, die ihn zu unfreiwilligen Handlungen veranlaßt, womit der Gegenstandsbereich der Untersuchung eigentlich noch viel weiter ausgedehnt werden müsste. Wichtig ist aber ihre Feststellung, dass sprachliche Verletzung sehr oft das Resultat einer Interaktion von Sprecher und Hörer ist. Diese Interaktion ist auch unter rhetorischen Gesichtspunkten relevant, etwa wenn es um die oft unberechenbare Dynamik von Grenzverletzungen zwischen Überzeugung und Überredung geht. Zentral für die Rhetorik ist darüber hinaus Krämers Feststellung, dass sprachliche Gewalt zur Kultur gehört. Damit wird der von Zinsmaier erwähnte und anhand von Ciceros Mythos illustrierte rhetorische Topos der Ersetzung von physischer Gewalt durch menschliche Kultivierung und persuasiven Sprachgebrauch erneut interessant.
2. Kultivierung durch die Rede als Überwindung physischer Gewalt
Grundsätzlich ist zunächst festzustellen, dass die Kultivierung, d. h. der Ausgang des Menschen aus dem Naturzustand, sein Verhältnis zur Gewalt verändert. Diese Erfahrung prägt auch die rhetorische Kulturentstehungslehre44 zu Beginn von Ciceros Schrift »De inventione«. Um das zu verdeutlichen, seien zunächst die Konsequenzen des Übergangs von der natürlichen zur kulturellen Lebensform in der Sicht des Isokrates beschrieben. »[W]eil wir von Natur aus die Gabe besitzen, einander überreden und uns unsere jeweiligen Wünsche mitteilen zu können«, erklärt er in der »Rede des Nikokles«, »haben wir uns nicht nur davon entfernt, ein Leben wie Tiere zu führen, sondern wir haben uns zusammengetan, Poleis gegründet, uns Gesetze gegeben, die Künste erfunden, ja bei fast allen unseren Erfindungen und Einrichtungen hat uns unsere Fähigkeit zu sprechen geholfen.«45 Diese Worte enthalten seine Kernthese, dass es die Sprache als Medium der wechselseitigen Äußerung von Bedürfnissen war, die den Menschen aus dem natürlichen, den Tieren ähnlichen Zustand herausgeführt und zu einem Kulturwesen gemacht hat. Isokrates nennt zwar neben der Gründung von Städten, dem Erlass von Gesetzen und der Entwicklung der Künste (d. h. der Techniken zur Herstellung des Lebensnotwendigen) noch weitere Kultivierungsmerkmale wie etwa den Ackerbau.46 Doch die dem gegenseitigen Nutzen dienende Sprach- bzw. Redefähigkeit des Menschen, d. h. genauer die Fähigkeit zur »vernünftigen Rede« (lógos), die das Zusammenleben rational gestaltet47, sind für ihn die wichtigsten Kennzeichen der Kulturentstehung.