Franz-Hubert Robling

Rhetorische Ethik


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die Reflexion ethischer Fragen rhetorischen Handelns. Diese Reflexion muss von der »unvertretbaren Eigenperspektive des Handelnden« (Krämer)9 ausgehen, von Entscheidungsdruck und Konflikterfahrung, dem damit verbundenen Orientierungs- und Beratungsbedarf, die in die Frage münden: »Was soll ich tun?« und dann zum Entschluss führen. Der Rückgang auf die subjektive Sicht des Redners also ermöglicht erst die ethische Reflexion des Handelns, und auf diese Sicht muss sich der Entwurf einer dieses Handeln anleitenden Ethik beziehen. Der Redner erscheint in der Öffentlichkeit allerdings nicht nur als Sprecher von mündlichen, sondern auch als Verfasser von schriftlichen Texten, also als Autor und dann in verschiedenen politischen, juristischen, sozialen oder kulturellen Rollen, und zwar in monologischer Rede oder im Dialog mit anderen Personen und Institutionen. Er tritt als einzelne Person auf oder fungiert als institutionelle Instanz, weshalb Unternehmen und Behörden ebenfalls unpersönlich als ›Redner‹ erscheinen können, wenn sie sich öffentlich äußern. Doch Entpersönlichung ist nicht mit Entsubjektivierung zu verwechseln, denn zu jeder Erscheinungsform der Rednerinstanz gehört die interessenbestimmte Handlungsperspektive und damit die ethische Verantwortung für Mittel und Ziele der Persuasion.

      Der im Folgenden präsentierte Entwurf einer rhetorischen Ethik geht von Kultur, Geschichte und Philosophie als leitenden Gesichtspunkten der Untersuchung aus. Kultur ist als Ausgangspunkt deshalb wichtig, weil die Kultivierung des Menschen durch Sprachentstehung und rhetorischen Sprachgebrauch nach Auffassung der rhetorischen Tradition Bedingung für die Humanisierung des Lebens ist. Erst mit der Entwicklung der Sprache hat der Mensch die wirklich entscheidenden Schritte aus der Abhängigkeit von der Natur gemacht. Die Kulturgenese durch Sprachgebrauch führte aber nicht nur zur Versittlichung des menschlichen Handelns, sondern ermöglichte auch die Entstehung des moralischen Bewusstseins und damit ebenfalls die ethische Beurteilung des persuasiven Handelns. Alle hier aufgeführten ethischen Aspekte der Rhetorik haben daher eine kulturelle Dimension, womit der Kulturaspekt10 in den normativen Vorgaben dieser Ethik immer präsent ist.11

      Doch nicht nur der Einsatz mit der Kultivierung des Menschen macht die Geschichte zum konstitutiven Moment dieses Entwurfs, sondern auch die Orientierung an den ethischen Vorgaben der rhetorischen Tradition. Geschichtliche Rückbesinnung begründet den rekonstruktiven Zug dieser Ethik, die zunächst die tradierten Vorgaben aufsucht, um sie dann mit dem Ziel der Konzeption einer modernen rhetorischen Ethik weiterzuentwickeln. Das Gegensatzpaar »überreden« und »überzeugen« etwa, das die moralische Qualität der Persuasion bewertet, wird zur Formulierung einer moralischen Grundnorm für die Rhetorik benutzt; die éthos-Lehre, welche die tugendhafte Selbstdarstellung des Redners in der Rede als persuasives Mittel beschreibt, dient zur kritischen Erörterung der Beziehung zwischen Reden und Handeln; und die vir-bonus-Formel, welche die Rechtschaffenheit des Redners einfordert, wird zum Ausgangspunkt für die Konzeption einer zeitgemäßen rhetorischen Tugendlehre und eines ethischen Leitbilds für den Redner heute. Dieser geschichtliche Zugang zur ethischen Thematik der Rhetorik soll zeigen, dass es in unserer Disziplin nicht nur den beschriebenen Bruch, sondern auch eine mögliche Kontinuität der ethischen Reflexion zwischen Vergangenheit und Gegenwart geben kann. Die Gültigkeit der alten Konzepte soll für unsere Zeit geprüft und die Frage gestellt werden, wo und wie man heute an sie anschließen kann. Unter diesem rekonstruktiven Gesichtspunkt ist der hier vorgelegte Entwurf eine deskriptive Ethik.

      Schließlich bezieht diese sich als eine spezielle auch auf die philosophische als die allgemeine Ethik. Philosophie und Rhetorik haben in allen Epochen der europäischen Kulturtradition bis heute ein enges Verhältnis gehabt. Dabei ging es für die Philosophie um die Mittel für eine wirksame Verbreitung ihrer Gedanken und für die Rhetorik um eine kritische Durchleuchtung ihrer persuasiven Grundannahmen.12 Allerdings hat sich die Philosophie von der Antike bis heute nur partiell dazu durchgerungen, die Rhetorik als integralen Bestandteil ihrer selbst anzuerkennen13, und die Rhetorik ihrerseits wies allzu oft die philosophische Kritik an ihrem Treiben als praxisferne Einmischung zurück.14 Die Philosophie war und ist auch heute noch das ›kritische Gewissen‹ der Redekunst, das die Bedeutung grundlegender rhetorischer Begriffe wie Meinung, Überzeugung oder Wahrscheinlichkeit klären will. Im vorliegenden Entwurf einer rhetorischen Ethik werden die Philosophie und ihre Prinzipien außerdem als Maßstab herangezogen, um die in der Tradition formulierten ethischen Normen der Rhetorik zu prüfen, nach modernen Standards zu präzisieren und weiterzuentwickeln.

      Die hier vorgelegte Ethik ist eine spezielle oder Bereichsethik, die versucht, philosophische Prinzipien zur Klärung von moralischen Fragen in einem Fachgebiet, und zwar der Redekunst, heranzuziehen. Man bezeichnet Bereichsethiken15, die zwischen der allgemeinen Ethik und der Erörterung konkreter Fälle eines Fachs vermitteln, auch als »angewandte Ethiken«, wie sie als medizinische oder technische Ethik, als Natur- und Umweltethik, Medienethik, Rechts- oder Wirtschaftsethik vorkommen.16 Deren Ziel ist die Untersuchung wichtiger Handlungsfelder einer bestimmten Disziplin, um dafür jeweils bereichsspezifische Normen zu formulieren und zu begründen. Im Unterschied zu Modellen der allgemeinen Ethik, die moralische Probleme meist abstrakt erörtern, haben Bereichsethiken den Vorteil, Leitlinien anzugeben, wie man sich in bestimmten Situationen richtig verhält, wenn Unklarheit oder Unsicherheit darüber herrschen, was man jetzt tun soll.17 In diesem Sinne ist die rhetorische Ethik eine Bereichsethik, die normative Prinzipien anbietet, mit denen man rhetorische Handlungen bewerten kann. –

      Das hier vorgelegte Buch umfasst sieben Kapitel. Das erste enthält eine Grundlegung der rhetorischen Ethik und sieht deren Aufgabe in der Beherrschung der Redegewalt. Es beschreibt die Rolle der Rhetorik bei der Kulturentstehung in der Sicht der Tradition. Die Kultivierung durch den persuasiven Einsatz der Sprache bescherte dem Menschen die Institutionen zur Organisation seines gesellschaftlichen und politischen Lebens sowie die Möglichkeit zur Ausbildung seiner individuellen Fähigkeiten. Doch dieser Prozess hatte auch ambivalente Folgen. Einerseits lernte der Mensch in der Auseinandersetzung mit seinesgleichen die Redekunst als Mittel der physischen Gewaltvermeidung einzusetzen; andererseits entdeckte er, dass der persuasive Gebrauch der Rede ein neues Mittel zur psychischen Gewaltausübung bereitstellt. So führt die Entstehung der Rhetorik zwar zum Ausgang aus dem Naturverhältnis wechselseitiger Gewaltanwendung und damit zur kulturellen Versittlichung des menschlichen Lebens. Darüber hinaus erfordert sie aber auch die Entwicklung von moralischen Normen in Gestalt einer Ethik, die dem Redner bewusst macht, wo der persuasive Gebrauch der Sprache erneute Gewalt, und zwar diesmal in psychischer Gestalt, freisetzt.

      Das zweite Kapitel untersucht rhetorisches Handeln als ethisches Handeln. Es versteht die Rhetorik als persuasive Praxis und nicht nur als persuasive Produktionstechnik, um so auch den Redner als handelnde Person mit einzubeziehen. Die rhetorische Technik wird mit Ernst Cassirer als kulturbegründende »symbolische Form« aufgefasst, die dem Redner eine bestimmte Weise des Weltzugangs ermöglicht und damit sein Handeln der ethischen Bewertung zugänglich macht. Dabei kommen Redner und Hörer aufgrund ihrer unterschiedlichen Bewertungsperspektiven zu je spezifischen Formen der Urteilsbildung. Aus dem Arsenal der rhetorischen Technik werden die Beispielgebung und die Modellierung des Redegegenstandes durch Amplifikation näher beschrieben, um zu demonstrieren, wie der Redner auch in der Art der Darstellung rhetorische mit ethischen Zielen verbinden kann.

      Das dritte Kapitel legt das systematische Konzept für die hier anvisierte rhetorische Ethik vor. Einleitend unterzieht es die bereits existierende Forschung zum Verhältnis von Rhetorik und Ethik einer kritischen Sichtung. Dann präsentiert es das in dieser Untersuchung favorisierte Bewertungsmodell als Synthese aus Strebens-, Sollens- und Nutzenethik, die es ermöglichen soll, die persuasiven Mittel und Ziele einer Rede ethisch zu beurteilen.

      Das vierte Kapitel stellt die Güter und Normen einer rhetorischen Ethik vor. Die Güter umfassen die verschiedenen rhetorischethischen Bereiche der Individualbildung und die das rhetorische Handeln ermöglichenden soziokulturellen Institutionen. Die Normen dieses Handelns beziehen sich auf die moralischen Grenzen persuasiver Instrumentalisierung, das Verhältnis von Reden und Handeln und auf den Umgang mit der Wahrheit, dann auf die Grenzen der Erregung von Gefühlen zwecks Mobilisierung der Hörer und zuletzt auf ethische Kriterien, die bei der persuasiven Indienstnahme des Angemessenen im Adressatenbezug der Rede zu beachten sind.

      Das fünfte Kapitel