Roberto Andò

Ciros Versteck


Скачать книгу

      

      Roberto Andò

      CIROS VERSTECK

      ROMAN

      Aus dem Italienischen von Verena von Koskull

image

      Inhalt

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Kapitel 4

       Kapitel 5

       Kapitel 6

       Kapitel 7

       Kapitel 8

       Kapitel 9

       Kapitel 10

       Kapitel 11

       Kapitel 12

       Kapitel 13

       Kapitel 14

       Kapitel 15

       Kapitel 16

       Kapitel 17

       Kapitel 18

       Anmerkung

       Zitatnachweis

      Ich fürchte, weder Neapel noch die Wirklichkeit im Allgemeinen je richtig gesehen zu haben.

      Anna Maria Ortese

      Jeremias, der die Kinderspuren sah, sich auf den Boden warf und sie küsste.

      Elias Canetti

      1.

      Splitternackt, den Blick wie jeden Tag starr auf einen gelblichen kleinen Fleck an der Wand gerichtet, sinnierte Gabriele Santoro auch an diesem gärigen Spätsommermorgen über die Wahl des Gedichtes, zu dem er sich rasieren würde. Seit einigen Jahren hatte er sich angewöhnt, während des Rasierens Verse zu deklamieren, ein Ritual, auf das ihn, ohne es zu ahnen, ein namhafter Neurochirurg gebracht hatte.

      Während eines Abendessens bei Freunden hatte er das Tuscheln des Mediziners mit dessen Tischnachbarin belauscht, einer knackigen Dreißigjährigen, die betont aufreizend versucht hatte, die strotzende Libido des Mannes zu schüren. Die Koryphäe beschrieb ihr die Gedächtnisübungen, denen er sich während der Rasur zu unterziehen pflegte – Opernlibretti, Gesänge der Aeneis oder des Orlando furioso, endlose Volksreime –, und pries deren positive kognitive Effekte, da sich, so theoretisierte er, mit dieser Disziplin ähnliche Rezeptoren wie die des Dopamins aktivieren ließen, mit erstaunlichen Auswirkungen auf die Stimmung.

      Seitdem hatte Gabriele Santoro angefangen, seine Lieblingsdichter noch einmal zu lesen und deren Verse je nach Verfasser oder Metrik leise oder getragen aus dem Gedächtnis zu rezitieren.

      An jenem Morgen entschied er sich für Ithaka von Konstantinos Kavafis und befand, dass dieses Gedicht nach beherzter Innigkeit im Stil des Schauspielers Salvo Randone verlangte, dem er zum Ende seiner ruhmvollen Karriere noch bewundernd hatte applaudieren dürfen. Wie immer nahm er Haltung ein, um die Worte und Metren in den Spiegel zu sprechen, und hob flüsternd an:

      Brichst du auf gen Ithaka,

      so wünsch dir eine lange Fahrt,

      voller Abenteuer und Erkenntnisse.

      Die Lästrygonen und Zyklopen,

      den zornigen Poseidon fürchte nicht,

      solcherlei wirst du auf deiner Fahrt nie finden,

       wenn hochgesinnt dein Denken, wenn edle

      Regung deinen Geist und Körper anrührt.

      Das nervtötende Schrillen der Gegensprechanlage ließ ihn abrupt innehalten, und mit eingeseiftem Gesicht lief er zur Tür, um zu fragen, wer dort sei.

      Er nahm den Hörer ab, und eine Baritonstimme teilte ihm mit, da sei ein Päckchen für ihn. Er reagierte nicht sofort, erwog kurz einen Irrtum, doch dann tauchte aus dem milchigen Spiegel der Erinnerung die Partitur wieder auf, die er zehn Tage zuvor bestellt hatte: die Symphonischen Etüden für Klavier op. 13 von Schumann.

      Er drückte den Einlassknopf, riss die Wohnungstür auf, stürzte zurück ins Bad, spritzte sich hastig Wasser ins Gesicht, um es von der Rasiercreme zu befreien, und hastete wieder zum Treppenabsatz, wo sein Besucher gerade der Aufzugkabine entstieg.

      Getreu einem eigentümlich eisernen Schweigegebot gegenüber Fremden unterschrieb Gabriele Santoro nach einem stummen Gruß die Empfangsbestätigung, wechselte mit Santino – die mächtige Statur des Boten trug den Diminutiv am Jackenkragen – ein abschließendes einvernehmliches Nicken und ließ ihn die Treppe hinab verschwinden.

      Zurück in der Wohnung, öffnete er den Umschlag mit der gleichen Ungeduld, mit der er als Kind die elterlichen Weihnachtsgeschenke aufgerissen hatte. Eine schwellende Unrast, die sich erst mit der Inbesitznahme legte, gedämpft durch ein leises, zehrendes Gefühl der Enttäuschung, das sich regelmäßig bei Menschen einzustellen pflegt, denen die Phase der Erwartung kostbarer ist als die der Erfüllung.

      Zurück im Bad, musterte er eingehend die frisch rasierten Hautbahnen auf Wangen und Kinn, blanke, glatte Blößen, die aus den großen, von stoppeligem, grauem Bartflaum bedeckten Flächen hervorleuchteten. Abermals verteilte er die Creme im Gesicht und fuhr fort, sich zu rasieren und zu deklamieren:

      Immer halte Ithaka im Sinn.

      Dort anzukommen, ist dir vorbestimmt.

      Doch beeile nur nicht deine Reise.

       Besser ist, sie dauere viele Jahre;

      und alt geworden lege auf der Insel an,

      reich an dem, was du auf deiner Fahrt gewannst,

      und hoffe nicht, dass Ithaka dir Reichtum gäbe.

      Ithaka gab dir die schöne Reise.

       Du wärest ohne es nicht auf die Fahrt gegangen:

       Was sonst erwartest du noch?

      Genau. Was konnte er sonst noch erwarten? Während er der Mehrdeutigkeit dieser Frage nachsann, ließ er sich