stundenlang allein beschäftigen konnte. Auch er hatte in seinem Alter die meiste Zeit mit nicht vorhandenen Freunden verbracht. Eigentlich war seine gesamte Kindheit eine grenzenlose, von erfundenen Wesenheiten spärlich bevölkerte Einsamkeit gewesen.
„Bin seit heut Morgen hier, als du im Schlafanzug warst“, sagte Ciro unvermittelt, ohne seine Angst zu verbergen.
Obwohl sie noch nie miteinander gesprochen hatten, war der Maestro nicht überrascht, dass der Junge ihn duzte. Er war also sehr früh in seine Wohnung eingedrungen – offenbar hatte er den winzigen Moment genutzt, als er dem Paketboten die Tür geöffnet und ins Bad zurückgekehrt war, um sich das Gesicht zu waschen, ehe der Aufzug das Stockwerk erreichte.
Er versuchte sich zu entsinnen, was sich seither ereignet hatte, und aus den nunmehr nebulös vorbeiziehenden Erinnerungen die intimen Handlungen herauszupicken, die der Blick dieses Unbekannten verletzt haben könnte.
„Du musst mir helfen“, setzte Ciro flüsternd nach.
„Und wie?“
„Musst mich verstecken“, sagte der Junge und machte einen Schritt auf ihn zu. Da bemerkte Gabriele Santoro, dass sein Besucher zitterte.
Er ließ sich das leise Schaudern, das auch ihn bei dieser Bitte überlief, nicht anmerken.
„Vor wem muss ich dich verstecken?“, hakte er nach, woraufhin sich Ciros Miene vollends verdüsterte und ihm zwei dicke Tränen in die Augen traten.
Trotz der unüblichen Uhrzeit – es war zehn Uhr abends – klingelte es plötzlich an der Tür.
Instinktiv wechselten er und der Junge einen einverständigen Blick.
„Versteck mich“, flehte Ciro noch einmal.
Ohne dass es einer Aufforderung bedurfte, folgte ihm der Junge ins Esszimmer und kletterte folgsam in den Hängeboden über dem Bücherregal, und Gabriele Santoro hastete zur Tür und legte das Auge an den Spion, vor dem zu seiner Verblüffung Diego stand, ein ehemaliger Schüler, den er vor einiger Zeit für zwei kurze Jahre unterrichtet hatte und von dem sein Spitzname stammte, der seither im ganzen Viertel gebräuchlich war: Maestro.
Er konnte sehen, wie Diego einen auf den Stufen hockenden Typ mit hektischen, nervösen Handzeichen zum Gehen drängte. Der ließ sich ein Weilchen bitten, erhob sich schwerfällig, raunte ihm etwas ins Ohr und verschwand.
Gabriele Santoro wartete einige Sekunden und beobachtete, wie sich sein Besucher das Hemd zurechtsteckte. Dann öffnete er die Tür einen winzigen Spalt.
Auf dem Gesicht, das im Türschlitz erschien, lag ein aufgesetztes Lächeln:
„Störe ich? Wie geht es Ihnen? Ich war bei Freunden gleich um die Ecke und da habe ich mir gedacht, ich schaue mal vorbei und sage Hallo.“
Gabriele konnte die Lüge wittern, die das Gesicht seines ehemaligen Schülers verriet, und deutete ein vages Nicken an. Er versuchte sich an ihre letzte Begegnung zu erinnern, als Diego ihn aufgesucht und ihm mitgeteilt hatte, das Konservatorium endgültig verlassen zu wollen. Sein Blick war noch immer der gleiche, nur ruheloser als damals.
„Ich bin gerade beschäftigt. In ein paar Tagen beginnt der Unterricht“, grummelte er in unzweifelhaft abweisendem Ton.
Mit einem dreisten Lächeln spähte Diego in Richtung Wohnzimmer.
„Nicht einmal eine klitzekleine Minute haben Sie für mich?“
Dem Maestro blieb nichts anderes übrig, als ihn einzulassen und ihn aufzufordern, im Wohnzimmer Platz zu nehmen, doch der junge Mann lehnte ab. In seinem eng anliegenden cremefarbenen Anzug stand er da und gaffte in den Flur, der zum Schlafzimmer und zum Bad führte.
„Ich hatte ganz vergessen, was für eine schöne Wohnung Sie haben“, bemerkte er gestelzt.
„Danke“, erwiderte Gabriele Santoro und überlegte, was er tun sollte.
„Ich schulde Ihnen einiges, Sie haben mich gelehrt, die Musik zu verstehen.“ Der Maestro bedachte die Schmeichelei seines Besuchers mit einem reservierten Nicken.
„Was machst du jetzt, Diego?“
„Ich leite mehrere Restaurants. Kann mich nicht beklagen.“
Sie beäugten einander in befangenem Schweigen, das Diego mit einer unerwarteten Bitte brach.
„Darf ich Sie um einen Schluck Wasser bitten, wenn es keine Umstände macht?“
Ohne mit der Wimper zu zucken, begab sich Gabriele Santoro in die Küche, tunlichst darum bemüht, seinen ehemaligen Schüler nicht aus den Augen zu lassen.
Vom Hängeboden aus hatte der Junge die Begegnung von Anfang an durch einen Spalt beobachtet und konnte nun sehen, wie Diego unversehens aufsprang, verstohlen ins Schlafzimmer und ins Bad schlüpfte, dann zur Küche schlich und urplötzlich wie ein Geist hinter dem Maestro auftauchte, der gerade die Kühlschranktür schloss.
Der verdatterte Hausherr hielt in der Bewegung inne und zwang sich zu einem Lächeln.
„Was machst du hier, Diego? Ich hätte dir das Wasser schon gebracht.“
„Ich wollte Ihnen keine Mühe machen.“
„Ein Glas Wasser zu bringen macht doch keine Mühe!“
In einem gierigen Zug leerte Diego das Glas und ließ ein Rinnsal auf sein Hemd tropfen.
„Schön kühl.“ Er fuhr sich mit der Hand über den Mund und stellte die nächste Frage:
„Und wo steht Ihr Klavier?“
Gabriele Santoro ahnte, dass sein Besucher auf einen Blick in das Arbeitszimmer erpicht war, und forderte ihn kurz entschlossen auf, ihm zu folgen.
Als er sah, dass das Zimmer ebenfalls leer war, behalf sich Diego mit einer weiteren Bitte:
„Würden Sie wohl dieses Stück für mich spielen, das Sie mir in meiner letzten Stunde bei Ihnen vorgespielt haben?“
Er meinte das siebte Stück von Schumanns Kinderszenen mit dem Titel Träumerei. Der Maestro fragte sich, weshalb er es diesem für Musik gänzlich unempfänglichen Menschen vorgespielt hatte; in den Genuss kamen sonst nur solche, die ein Minimum an Talent zeigten. Nach einem kurzen Zögern nahm er in gesammeltem Schweigen auf dem Hocker vor dem Steinway Platz und schlug die ersten Phrasen der Träumerei aus dem Gedächtnis an. Als er das unbedarft schwelgerische Lächeln im Gesicht des jungen Mannes wahrnahm, brach er jäh ab und schloss den Klavierdeckel wieder.
„Diese Musik macht einen wirklich sprachlos“, meinte der Schüler.
„Umso besser“, versetzte der Maestro obenhin. Er stand auf, konterte den verdutzten Blick seines Besuchers und fügte hinzu:
„Kann ich sonst noch was für dich tun, Diego?“
Verlegen hielt ihm der junge Mann die Hand hin:
„Sie haben schon mehr als genug getan! Es hat mich wahnsinnig gefreut, Sie wiederzusehen, entschuldigen Sie nochmals die Uhrzeit, und danke für die Gastfreundschaft.“
Nach einem hastigen Abschied an der Tür konnte Gabriele Santoro endlich Ciro befreien.
Als er die Klappe des Hängebodens aufstemmte, kauerte der Junge mit blasser, verängstigter Miene da. Er fühlte ihm die Stirn und stellte fest, dass er glühte. Er brachte ihn ins Arbeitszimmer, klappte das Schlafsofa auf und bedeutete ihm, sich hinzulegen. Beim Fiebermessen bemerkte er, dass der Junge vor Schüttelfrost zitterte. Binnen einer Minute war das Quecksilber auf neununddreißigeinhalb gestiegen. Vielleicht hätte eine Aspirin-Tablette das Fieber senken können, doch vermutlich hatte Ciro seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Also lief der Maestro in die Küche zum Kühlschrank, um nachzusehen, was er ihm zu essen machen könnte.
Während er die dürftigen Möglichkeiten abwog – außer einer tiefgefrorenen Minestrone gab es nicht viel –, war plötzlich Geschrei zu hören. Er blickte in den Hof hinunter und sah Carmine Acerno,