Hab ich gepennt?“
„Ja.“
Leicht verschämt sprang der Junge auf.
„Hast im Schlaf ganz schön rumgezappelt. Schlecht geträumt?“
Ciro funkelte ihn finster an.
„Ich hab gar nix geträumt, du bist derjenige, der die Flatter kriegt und ’nen Scheißdreck macht“, stieß der Junge wütend hervor und spuckte auf den Boden.
Ungerührt stand Gabriele Santoro auf, zog sein Taschentuch hervor und wischte die Spucke weg. Als er wieder zu sprechen anhob, verzichtete er auf die komplizenhafte Einvernehmlichkeit des Jargons.
„Wenn es dir bei mir nicht passt, dann such dir jemand anderen, der bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um dich zu verstecken, da draußen gibt es eine Menge Leute, die dich mit offenen Armen empfangen würden. Geh schon, na los, worauf wartest du?“
Ciro stierte ihn so grimmig an, als stünde er kurz vor dem Platzen.
„Glaubste etwa, ich hab Schiss, hier rauszugehen? Ich weiß, wie man einen abmurkst. Vor zwei Wochen hab ich zwei Scheißkerle verrecken sehn.“
Schweigend ließ der Maestro seinen dumpfen Zorn über sich ergehen.
„Du brauchst gar nicht so zu schreien, es ist sonnenklar, dass das nicht stimmt“, flüsterte er.
„Ach ja? Hätt’ste mal sehn sollen, wie der Mesa verreckt ist, die zwei Arschlöcher, die sie im Lager verbrannt haben, und Musella. Da war’n ich und mein Vater, der hat das gemacht, ich hab nur zugeguckt. In ’ner Garage in Borgo Sant’Antonio hat er die kaltgemacht, in die Birne geschossen hat er denen. Hier, mitten auf die Stirn. Paff-paff. Erst den einen und dann den anderen. Als der Erste hin war, hat der andere sich eingeschissen. Echt, Mann, und dann sag noch mal, ich verzapf Scheiß.“
„Halt den Mund“, stöhnte Gabriele, dann sagte er nichts mehr.
Erschüttert schloss er die Augen und musste aus unerfindlichen Gründen an die Geschichte denken, die ihm sein Vater zwei Tage zuvor am Telefon erzählt hatte.
„Deine Mutter hat nie mit mir tanzen wollen, sondern immer nur mit Fremden. Wie Marlon Brando in Der letzte Tango in Paris; sie meinte, es mache ihr nur mit Männern Spaß, deren Namen sie nicht kenne. Wir haben nur ein einziges Mal miteinander getanzt, vor zehn Jahren, in einem Restaurant in Lissabon, wo ein Alter Akkordeon spielte. Als er eine Milonga anstimmte, ist sie aufgestanden und hat mich zum Tanz aufgefordert. Wir fingen an, uns zu drehen, ohne uns um die Blicke der anderen Gäste zu scheren. So war deine Mutter, eigentlich hat sie immer alle manipuliert.“
Gabriele war es unbegreiflich, was den Vater plötzlich zu dieser Vertraulichkeit bewogen hatte, dabei hatten sie eigentlich gerade über etwas ganz anderes gesprochen und der Vater hatte sich in einem inzwischen zur Gewohnheit gewordenen Lamento beklagt, man könne nicht mehr ins Kino gehen – „Die Schauspieler von heute wissen nicht mit ihrer Stimme umzugehen, die nuscheln irgendwas Unverständliches in sich hinein und das Publikum beschwert sich nicht einmal.“ Es war nichts dabei, das Gesprächsthema zu wechseln, doch hatte diese Schilderung ihn erahnen lassen, dass etwas in seinem Vater in Auflösung begriffen war, die Ordnung der Dinge, das künstliche Band, das uns mit der Welt verknüpft, das prekäre Gleichgewicht zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren.
Während er Ciro betrachtete, schalt sich Gabriele Santoro dafür, hinter Carmines Allerweltsvisage nicht den Camorrista erkannt zu haben. Sein gelangweiltes Auftreten hatte ihn stets an einen Beamten denken lassen, an einen Buchhalter oder an einen Anwalt womöglich. Er erinnerte sich, ihn einmal im Gambrinus mit einer Frau gesehen zu haben. Die beiden hatten an einem Tisch gesessen und er hatte ihr anzüglich über die Wange gestreichelt. Die Frau war ebenso blutjung wie hässlich gewesen, mit schiefem Gesicht und ordinärem Auftreten. Irgendwann hatte der Mann bemerkt, dass sie beobachtet wurden, und die Frau hatte sich zu Gabriele umgedreht, war unvermittelt aufgesprungen und davongestürmt. Er und Acerno hatten einen feindseligen Blick gewechselt.
„Heute Abend essen wir zeitig, ich habe später noch etwas vor“, sagte der Maestro, als wäre er aus einer Trance erwacht, und verschwand in der Küche.
„Was willst du? Magst du Pasta alla Sorrentina mit Provolone und Tomatensauce?“
Ciro nickte, und er machte sich daran, die Tropea-Zwiebeln zu schneiden und eine einfache Tomatensauce nach dem Rezept seines sizilianischen Kollegen zuzubereiten, der Kontrabass-Professor war.
Sie aßen schweigend.
„Gehste dein Mädel ficken?“, fragte der Junge plötzlich, während der Maestro die Teller spülte.
Gabriele überlegte einen Moment. „Ja, sie wartet auf mich.“
Als Ciro ihn fragte, ob er den Fernseher anmachen dürfe, zeigte er ihm die Fernbedienung, überlegte es sich dann jedoch anders: Sollte er auf dem Weg hinaus jemandem aus dem Haus begegnen, würde der sich über den laufenden Fernseher in der leeren Wohnung wundern.
„Daran hab ich nicht gedacht“, flüsterte der Junge mit betretenem Lächeln.
Als der Maestro wenig später den Hof durchquerte, drehte er sich zu den Fenstern seiner Wohnung um und sah den Jungen beklommen hinter einem der Wohnzimmerrollläden stehen. Er zwinkerte ihm zu und setzte seinen Weg fort.
Während draußen, auf der Straße, das Volk nichts hört.
Konstantinos Kavafis
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