Michael Marrak

Das Haus Lazarus


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November 1503

      Heute hatten wir hohen Besuch im Haus: Seine Erlaucht Graf Heinrich III. von Nassau und seine Verlobte, die Herzogin von Savoyen, gaben sich mit ihrem Kleingefolge die Ehre und ließen sich bewirten. Die halbe Speisekammer und ein viertel Fass Wein haben sie sich in die Bäuche geschlagen, als gäbe es kein Morgen mehr, und das mit einer Selbstverständlichkeit, die mich vor Ingrimm zittern ließ. Ich mag ihn nicht wirklich gut leiden, diesen feistfrömmelnden Magnificus und Herrn von Breda. Dennoch war er der Einzige, der sich für Speise und Trank bedankte.

      Der Grund für den Besuch des Grafen war jedoch keinesfalls, sich von uns verköstigen zu lassen, sondern die Fortschritte des in Auftrag gegebenen Altarbildes zu begutachten. Sein Loben und Staunen ob der daraufhin von Jerome erstmals enthüllten Paradiestafel erwärmte mein Herz mit Stolz und Genugtuung. Einzig das finstere Loch im Edengarten hatte den Herrn von Breda irritiert.

      Nichtsdestotrotz waren er und die Herzogin voll des Lobes ob der visionären Fülle und Detailverliebtheit. So kam es, dass der Graf Jeromes bisher geleistete Arbeit mit zwanzig Gulden vergütete. Diese Großzügigkeit ließ erahnen, dass er durchaus eine Vorstellung seines Genies und seiner Akkuratesse hatte.

      9. November 1503

      Meine liebe Elya, was soll ich nur tun? Auf dem Markt erzählte mir eine der Bäckersfrauen heute Morgen, der Nachwächter der Südstadt habe Jerome zu vorgerückter Stunde in einem unbeleuchteten Kahn die Diezegracht hinabstaken sehen – in Richtung des Dirnenviertels. Und den Blicken der Leute nach zu urteilen hatte dieses Klatschweib es zuvor wahrscheinlich schon jedem erzählt, der willens gewesen war, ihr zuzuhören, und offen für jedwede Art von eklatschwangerem Ondit. Ich vermochte zu lauschen, wie sie hinter meinem Rücken tuschelten und sich ihre Tratschmäuler zerrissen.

      10. November 1503

      Ich konnt’ mich Jerome gegenüber noch nicht dazu durchringen, die Behauptung des Nachtwächters zur Sprache zu bringen. Vielleicht ist’s die Angst vor dem Schmerz, die mich zögern lässt. Angst vor den Worten, die finsterste Befürchtungen offenbaren könnten. Vor der Erkenntnis, eine innere Bande langsam zerreißen zu wissen und meinen Mann langsam an ein urbanes Schreckgespenst aus Manie, Phantasmagorien, Lust und Irrwandelei zu verlieren.

      Ehe ich nicht aus Jeromes eigenem Mund gehört habe, dass alles nur dummes Gerede und Waschweibergemunkel ist, weigere ich mich zu glauben, dass er die Eingebung für seine Visionen in den Freudenhäusern findet und nicht beim Studium der in Stein gehauenen Figuren auf Sankt Jan und der Lektüre von Tier-Enzyklopädien und Herbarien in der Bibliothek des Stadtverwalters.

      11. November 1503

      Sag mir, Elya, war’s Torheit oder göttliche Eingebung, die meine Schritte gelenkt hatten? In einem vermeintlich einsamen Moment, in dem ich Jerome oben in der Dachkammer wähnte, hatte ich mich ins Atelier geschlichen, um mir die seltsamen Figuren in seinem Paradiesgarten anzusehen – und hatte gerätselt, welche der beiden dreiköpfigen Kreaturen jenen Sargalámpech darstellen sollte, von dem er so geheimnisvoll gesprochen hatte; die eine ein schwarzer Salamander, die andere ein großer brauner Vogel. Dabei wollte ich gerne glauben, ihrer beider Abnormität sei Jeromes Unschlüssigkeit geschuldet, wohin mit dem Hals.

      Nach wie vor grüble ich über die Bedeutung des wie ein Schandfleck wirkenden finsteren Pfuhls, an dessen Ufer der dreiköpfige Vogel sitzt. Als der Graf zu Besuch war, hatte das Wasser bereits düster geglänzt, doch nun war es voll schwarzer Unwesen und Nachtschatten, die sich darin tummelten oder ihm auf dem Bauch robbend entstiegen.

      Dass Jerome hinter mir lautlos das Atelier betreten hatte, wurde mir erst gewahr, als ich seine Stimme vernahm, die fragte: »Gefällt es dir, meine Teuerste?«

      Ich fühlte mich innerlich zu Stein erstarren. Glaube mir, liebste Elya, es war ein Moment, in dem ich mich so weit wegwünschte, wie meine Vorstellungskraft es nur zuließ.

      Schuldbewusst wandte ich mich um, wollte etwas Scharfsinniges erwidern, das meine Neugier Jerome gegenüber rechtfertigen mochte. Mich an eine Eingebung klammernd, übte ich leise Kritik an dem, was ich sah. Auf meine Bemerkung, das schillernde Haar der Eva sei dünn wie der Flaum einer Goldmotte, reagierte Jerome fast schon mit Schrecken. Minutenlang betrachtete er sein Werk, dann ergriff er wie in Trance einen Quastenpinsel und tunkte ihn in rote Farbe. Anstatt sich damit jedoch dem Haar der Eva zuzuwenden, zog er mit der freien Hand das Oberteil meines Nachtkleides herab und drückte ihn zwischen meine entblößten Brüste. So verharrte er eine Weile, fast, als wollte er sich von der Sinnhaftigkeit seines Tuns überzeugen. Schließlich wies er mich an, den Pinsel zu halten, ohne ihn von meinem Fleisch abzusetzen. Während ich tat, wie mir geheißen, ergriff er ein Leinwandmesser und schnitt mir das Nachtkleid, wie ich es am Leibe trug, von oben nach unten entzwei.

      Entgeistert, ja geradezu bestürzt gab ich mich seiner Anwandlung hin, ohne mich zu regen.

      »Eine Seele, die zwischen Licht und Dunkelheit gefangen ist, teilt alle göttlichen Sinnesfreuden, ohne sich an ihnen ergötzen zu können«, sprach Jerome. Daraufhin ließ er den Pinsel kreisen und begann meine Brüste zu bemalen. »Die ersten Schatten traten nicht aus der Dunkelheit hervor ins Licht, und sie ließen sich auch nicht aus der Nacht herabsinken.« Ich fühlte die Pinselspitze an mir herabgleiten und erbebte, als ich die kalte Farbe zwischen meinen Schenkeln spürte. »Sie tauchen aus der Tiefe empor, und der Bylar wacht in ihrer Mitte.« Der Pinsel wanderte in einer Wellenlinie wieder hinauf bis zu meinem Hals. »Er gibt ihnen die Form, nennt ihnen ihre Namen und zählt ihre Zahl.«

      Auf meine mit zitternder Stimme geflüsterte Frage, was denn ein Bylar sei, lächelte er und sagte: »Der Quellherr der Sünde und dunklen Verlockung …«

      16. November 1503

      Käm’ ich doch nur dahinter, was Jeromes ruhelose Seele in den finsteren Stunden umtreibt und ihn dort draußen auf der Dieze suchen lässt. Inzwischen bin ich so weit gegangen, dem Nachtwächter einen Goldgulden zuzustecken, mit der Bitte, ihm heimlich entlang der Kanäle nachzustellen, um herauszufinden, wohin seine Bootsfahrten ihn führen. Und bitte, bitte, bitte, meine liebe Elya, lass es nicht die Hurennester im Fischerviertel sein. Ich würde diese Schmach nicht verkraften.

      19. November 1503

      Ich bin inzwischen wirklich in größter Sorge. Heute Morgen fand ich Jerome in voller Montur auf dem Kanapee im Gesellschaftsraum liegend. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, seine feuchtklamme, nach Brackwasser stinkende Kleidung zu wechseln. Dabei muss er bereits Stunden zuvor zurückgekehrt sein und im Atelier gearbeitet haben, denn rings um den Schemel war der Boden noch feucht vom herabgetropften Wasser, und im Tümpel auf der Tafel fand sich eine neue Figur. Zuerst hatte ich sie gar nicht wahrgenommen. Erst als ich die Fenster öffnete, um den Abwassergestank auszutreiben, war sie mir aufgefallen. Verwundert war ich daraufhin stehen geblieben und hatte sie mir angeschaut.

      Sie wirkt auf den Betrachter, als hätte Jerome den ursprünglichen an dieser Stelle befindlichen Kopf eines mannsgroßen schwarzen Fisches mit dem Oberkörper einer mönchartigen, in die Lektüre eines Buches vertieften Gestalt übermalt. Dabei beschreibt ihr Körper unterhalb der Wasseroberfläche einen unnatürlichen Knick, der das eine nicht zum anderen passen lassen will. Aber was mag es sein, das da aus ihrer Kapuze ragt? Ein Schnabel? Eine Pestmaske?

      21. November 1503

      Jerome ist seit zwei Tagen krank. Eine schlimme Erkältung hat ihn befallen, zweifelsohne die Folge seiner Eselei, des Nachts mit bis auf die Haut durchnässter Kleidung stundenlang in der Stadt umherzuirren, statt heimzukehren und mich ihm ein warmes Bad bereiten zu lassen. Nun quälen ihn Fieber, Schüttelfrost und ein heftiger Husten, der sich heiser aus seinen Lungen Bahn bricht und ihn weder Schlaf noch Erholung finden lässt.

      Trotz der Sorge um sein Wohlbefinden bin ich erleichtert über seine Bettlägerigkeit, denn so kann ich ihn zu Hause und nicht rastlos in der Stadt umherwandeln wissen.

      »Du kannst den Bylar nicht sehen, Ally, aber er sieht dich«, murmelte er in einem dunklen Moment aus Fieberdelir und der Wirkung der Arznei, die der Medicus ihm verordnet hat. »Versprich mir, dass er deinen Namen niemals in sein Buch schreibt und dir einen Pfuhlgeist schickt.«

      23.