Michael Marrak

Das Haus Lazarus


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so leise, als wollte ihr Träger mich nicht unnötig ängstigen. Doch es war nicht ihr Klang, der mich erschaudern ließ, sondern die wenigen Worte, die sie sprach: »Es kommt der Tag, da wird ein jeder auf Erden ein Zeuge werden, Aleyd. Aber die Erleuchtete hat keinen Anfang in der Zeit. Sie war, ist und wird immer sein.«

      Kaum war die Stimme verklungen, da bemerkte ich mehrere Spuren aus aufsteigenden Luftblasen, die sich mir aus der Mitte des Grachthofes langsam näherten. Die monströse schwarze Hand indes begann sich aufzurichten, bis ihre vier mittleren Finger steil in den Nachthimmel wiesen, während die beiden äußeren wie riesige stumpfe Hörner abstanden. Im Zwielicht sah ich drei, bald schon vier Paare großer, fahlgelber Augen, die sich nahe dem tiefsten Treppenabsatz dicht unter der Wasseroberfläche versammelt hatten und zu mir heraufblickten; glänzende Schimmer ohne Gesichter und ohne Körper. Und während ich schreckensstarr vor Angst ihre Blicke erwiderte, öffnete sich im Zentrum des riesigen schwarzen Handtellers ein mächtiges, orangefarben glühendes Auge und starrte mich an.

      Gott, Elya, der Anblick dieses entsetzlichen schwarzen Zyklopendinges, das da nun lautlos durch das Wasser auf mich zuglitt, schnürte mir die Kehle zu. Dabei wuchs es höher und höher empor, bis es die ——

      *****

      Hier endete der erhaltene Teil des Epistolariums – und ließ mich fassungslos und innerlich aufgewühlt, ja fast schon wütend ob der Ungewissheit um das Schicksal der Verfasserin zurück. Es war, als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand gerannt, von der ich von Anfang an gewusst hatte, dass sie existierte. Eine Wand, die zwar nicht den Blick auf das Dahinter verwehrte, aber dennoch das jähe und absolute Ende markierte.

      Aleyd hatte das albtraumhafte Ereignis überlebt, so viel war sicher, denn wie hätte sie sonst diesen letzten Brief an jenen geheimnisvollen Empfänger niederschreiben können? Doch die Umstände, unter denen sie dazu in der Lage gewesen sein konnte angesichts der unverhohlenen Bedrohung, der sie ausgeliefert gewesen war, blieben im Ungewissen.

      Ich strich mit den Fingerkuppen über die Reste der herausgerissenen Seiten. Nur der heftige, seit Stunden andauernde Regen hielt mich an diesem Abend davon ab, mich im historischen Fischerviertel auf die Suche nach jenem Ort zu begeben, den Aleyd – sofern alles der Wahrheit entsprach – in einer für eine Frau ihrer Zeit und ihres Standes so drastischen Weise beschrieben hatte.

      Gegen Vormittag des fünften Tages vermeldeten die Nachrichten, dass der angesehene Brabanter Maler und Bildhauer Isaak Melech in den Morgenstunden des gestrigen Tages tot in seinem Hotelzimmer im belgischen Genk aufgefunden worden war. Obwohl mein Informant mir nie seinen Namen genannt und sich bei unserem einzigen kurzen Treffen in Aachen hinter dickem Schal und dunkler Brille versteckt gehalten hatte, wusste ich sofort, dass er es war, dessen Dahinscheiden durch die Medien geisterte.

      TABULA DEXTRA: MALEBOLGE

      Ich ging den Weg, den Aleyd vor 500 Jahren genommen haben musste, vom historischen Markt aus durch die westliche Altstadt bis zum ehemaligen Jansportal, wo sie wahrscheinlich ins Boot gestiegen war. Von dort aus marschierte ich entlang des Kanals, bis dieser unweit des ehemaligen Klosters Marienburg einen Bogen von fast neunzig Grad beschrieb und unter den Reihen der ehemaligen Bordelle verschwand. Die meisten Diezegrachten waren im Laufe der Zeit aus dem Stadtbild verschwunden. Manche der noch erhaltenen schmalen Gewässer, die seinerzeit als Abwasser- und Frachtkanäle gedient hatten, wirkten, als hätte vor Jahrhunderten eine schlammig-braune Flut die Stadt heimgesucht und wäre nie wieder aus den tiefen Gassen gewichen.

      Wo einst jedoch der im Süden gelegene Hauptkanal entlang der alten Stadtmauer geführt hatte, verlief heute eine rege befahrene, mit Platanen gesäumte Straße. Ich folgte ihr etwa dreihundert Meter weit in östliche Richtung, ohne auf einen offenen Überrest des Gewässers oder einen Zugang zu stoßen. Sofern im Untergrund noch Abschnitte des alten Kanals existierten, war der Grachthof, in dem sich Aleyds Schicksal erfüllt hatte, allenfalls durch die Kanalisation oder die im Untergrund fließende Altdieze erreichbar.

      Als ich mich in jener Gegend wähnte, in der sich vor Jahrhunderten das in den Briefen beschriebene Areal befunden haben musste, und meinen Blick über die schmutzig grauen Häuserfassaden wandern ließ, fiel mir an einem der Gebäude ein gekipptes, vom anhaftenden Staub fast blindes Buntglasfenster auf. Es war wie die benachbarten Fenster auf die gleiche Art und Weise gefertigt wie jenes, das van de Dageraad bei meinem Besuch geöffnet hatte, um den Gestank aus seinen Räumlichkeiten zu vertreiben.

      Elektrisiert suchte ich eine Passage, die in die Fußgängerzone jenseits der ehemaligen Stadtmauer führte – und stand bald darauf tatsächlich vor jenem Portal, hinter dem die geschwungene Holztreppe zu den Räumlichkeiten des Antiquariats führte.

      »Herr Simmonis«, erklang van de Dageraads verzerrte Stimme und ließ mich zusammenzucken. »Es ist zwar Sonntag, aber bitte, kommen Sie doch herauf!«

      Ich starrte auf den Lautsprecher der Gegensprechanlage, dann hob ich den Blick und fand in einer Ecke über der Tür eine kleine unscheinbare Videokamera. Beim Summen des Türöffners rammte ich die Pforte mit der Schulter auf und stapfte die Treppe empor.

      »Es war wohl Intuition, heute zu arbeiten«, hörte ich den Antiquar aus seinem Allerheiligsten rufen, kaum dass ich die obere Ladentür geöffnet und die Räumlichkeiten betreten hatte. »Sonst hätte ich Sie glatt verpasst.«

      Van de Dageraad hockte hinter seinem Arbeitstisch, als hätte er sich fünf Tage lang nicht von der Stelle bewegt.

      »Intuition?«, fragte ich, als unsere Blicke sich trafen. »Tatsächlich?«

      »Jeder Fluss, so steht es geschrieben, mündet in seine Quelle.« Mein Gegenüber behielt sein Lächeln bei. »Wie verlief Ihre Arbeit? Sind Sie zufrieden?«

      »Das bin ich keinesfalls.« Ich trat vor ihn hin und nahm unaufgefordert Platz. »Und Sie wissen genau, warum.«

      »Sagen wir, ich habe eine leise Ahnung …«

      Ich schloss die Augen und atmete tief durch, dann zog ich die Schatulle mit dem Epistolarium aus meiner Tasche und legte sie vor ihm auf den Tisch, wobei ich meine Hände jedoch auf dem Deckel ruhen ließ.

      »Warum?«

      Van de Dageraad zog die Augenbrauen zusammen, was ihn in Kombination mit seiner Bergerac-Nase einem griesgrämigen Geier ähneln ließ. »Geht es vielleicht etwas genauer?«

      »Ihr ›alter Freund‹ Melchior«, half ich ihm auf die Sprünge. »Er ist tot.«

      »Oh schat«, entfuhr es dem Antiquar. »Das ist wahrlich bedauerlich. Wissen Sie vielleicht, was sich zugetragen hat?«

      »Sagen Sie es mir!«

      Van de Dageraad zog das Kinn an die Brust. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, ich hätte etwas mit seinem Ableben zu tun?«, gab er sich entrüstet.

      »Es ist doch ein seltsamer Zufall: Vier Tage nachdem ich Ihnen den Namen des Hotels verraten habe, segnet er just dort in seinem Zimmer das Zeitliche.«

      Der Antiquar lehnte sich in seinem Sessel zurück, faltete seine Hände vor seiner Brust und sah mich lange und forschend an. »Herr Simmonis«, sagte er schließlich leise und ohne jedweden Grimm in der Stimme. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie alt Melchior war?« Als ich nicht antwortete, fuhr er fort: »Der Architekt Willem Molenbroek hatte sich nach der Einweihung seines berühmten Weißen Hauses in Rotterdam eines seiner Gemälde in sein Büro hängen lassen. Das war im September 1898.«

      Ich verdrehte die Augen. Van de Dageraads Blick hingegen fand wieder die Buchschatulle. »Ich bin überrascht, dass Sie es bei sich haben«, gestand er. »Sie hatten doch bestimmt nicht vor, mich ausgerechnet heute mit Ihrem Besuch zu erfreuen.«

      »Hotelzimmer sind ja offenbar nicht mehr sicher …«

      Der Antiquar schürzte die Lippen, verbiss sich aber eine Bemerkung. Stattdessen fragte er: »Dürfte ich mich davon überzeugen, dass das Exponat in Ihren Händen nicht gelitten hat?«

      Ich seufzte, dann schob ich die Schatulle zu ihm hin. »Wer war Elya?«, fragte ich, nachdem er sich seine Handschuhe übergestreift und ihr das Buch entnommen hatte.