Carsten Hensel

Wladimir Kramnik


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Außerdem galt es, an einigen Schwächen zu arbeiten, die ihn noch daran hinderten, schachlich sein ganzes Potenzial abzurufen.

      Resch beschreibt die Probleme so: »Wolodja hatte immer Hunger, sich aber schlecht ernährt, ganz oft aus der Dose. Er hatte damals in Moskau eine Dreieinhalbzimmerwohnung, und ständig lebten dort irgendwelche Leute und übernachteten.« Er sei erst früh morgens ins Bett gegangen und frühestens um 14 Uhr aufgestanden. »Aber das ist nicht das Schlimmste gewesen. Das Schlimmste war, dass er sich überhaupt nicht um seine körperliche Verfassung gekümmert und einen chaotischen Lebenswandel geführt hat«, erinnert sich Resch.

      Kramnik hat Josef Resch einiges zu verdanken. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, denen Wladimir begegnete, hatte Resch kein finanzielles Interesse, war offen und ehrlich zu ihm. Resch kritisierte die ungesunde Lebensweise und erklärte ihm auch, dass er sich selbst um sein Vermögen kümmern müsse, weil er sonst nie eines besitzen würde. Er sagte ihm ganz direkt: »Bei diesem Lebenswandel wirst du niemals Weltmeister.« Kramnik verstand natürlich, blieb aber zunächst stur. Es sollte noch Jahre dauern, bis er sein Leben tatsächlich ändern würde.

      Dafür brauchte er die große Herausforderung, die er 2000 mit Kasparow bekommen sollte. Ein weiteres Problem verstärkte sich mehr und mehr: Er bekam in Russland keine Ruhe mehr. Dort war er schon ein Star und wurde von vielen Menschen umgeben – auch von denjenigen, die einzig und allein auf ihren schnellen Vorteil aus waren. Populäre Menschen wie Kramnik, denen es nicht leicht fällt, klar nein zu sagen, können sich ihnen kaum entziehen. Eine Fokussierung auf die weitere Karriere ist dann kaum noch möglich, und oft genug ist dies der Anfang vom Ende.

      Noch aber sah Kramnik keine Probleme. 1993 sagte er über sich selbst: »Ich bin nicht sehr ehrgeizig, das liegt in meiner Natur.« Für seine Verhältnisse arbeitete er durchaus hart, aber eben nicht konzentriert genug. Er war ein starker Analytiker, schon damals brachte er mit wissenschaftlicher Akribie die Schachtheorie voran. Wladimir glaubte an korrektes Schach, an die Schönheit des Spiels. Sein Leben war zu dieser Zeit genauso, wie er es sich vorgestellt hatte: Er lebte wie ein Bohemien, sein junger Körper machte das alles noch mit, und er fühlte sich rundherum wohl.

      Doch langsam, aber sicher fand eine Transformation statt, wobei er immer wieder von seinem Mentor Resch ermuntert wurde. Als Reaktion auf seine Matchniederlagen 1994 gegen Kamsky und Gelfand explodierte Kramnik im Jahr 1995: Wladimir triumphierte erstmals in Dortmund, danach in Horgen (Schweiz) und in Belgrad. Seine Leistung für Empor Berlin in der Bundesliga war unglaublich beeindruckend. Am ersten Brett legte er sieben Siege bei drei Remis hin. Die deutsche Schachöffentlichkeit war von dem jungen Russen begeistert.

      

12

      Doch es war nicht alles Gold, was glänzte. Wladimir Kramnik vertraute Mitte der 1990er Jahre hin und wieder den falschen Leuten. Um den Großteil seines bis dato erspielten Vermögens von knapp 400.000 Mark wurde er betrogen. Im Beisein eines bekannten Berliner Schachjournalisten hatte er ein Bankkonto in Berlin eröffnet. Vollmacht dafür bekam laut Kramnik ein Betreuer des Berliner Schachbundesligisten Empor. Kramnik hatte mehrfach im Ausland befreundeten Schachspielern aus Deutschland Schecks und Bargeld mit der Bitte übergeben, diese an den Bevollmächtigten weiterzuleiten, der die Einzahlungen auf sein Konto vornehmen sollte. Lange glaubte Wladimir, dass sein Vermögen sicher auf diesem Bankkonto liege, jedoch sah er davon nie wieder einen Pfennig.

      Wladimir Kramnik sieht sich von dem Berliner betrogen und äußert sich wie folgt: »Er hatte Vollmacht für mein Bankkonto und hob hohe Beträge ohne meine Zustimmung ab. Was immer er vorgibt, mit dem Vermögen gemacht zu haben: Ich hätte ihm niemals die Erlaubnis dafür gegeben!« Der von Kramnik hier Beschuldigte hatte Glück: Kramnik zeigte ihn nicht an. Sein damaliges Phlegma, Unsicherheit im Umgang mit dem deutschen Rechtssystem und auch eine gewisse Peinlichkeit in dieser Angelegenheit spielten eine Rolle.

      Einige Kenner der Berliner Szene behaupten noch heute, dass Kramniks Geld an die Spree-Capital GmbH weitergeleitet wurde, um es zu investieren. Auf dem Blog des deutschen Großmeisters Jörg Hickl wird dazu berichtet. Einige Schachspieler hätten der Spree-Capital ihr sauer Erspartes anvertraut. Deren Geschäftsführer habe sich nach der Wende mit dieser Firma selbstständig gemacht und sei bald in den Verdacht dubioser Machenschaften geraten: der Veruntreuung der Gelder seiner Anleger. Als Spree-Capital wie ein Kartenhaus zusammenfiel, wurde deren Geschäftsführer zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.

      Betrug schien in der deutschen Schachszene aber nicht nur im Berlin der 1990er Jahre gang und gäbe gewesen zu sein. In seiner Ausgabe vom 3. November 1995 deckte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel auf, dass der Germanist und Kunsthändler Heinrich Jellissen seinen Investoren eine jährliche Rendite von mindestens zwölf Prozent versprochen hatte. Jellissen habe die Aura eines Mannes von Welt verströmt. Mehr als ein Dutzend Spieler und Funktionäre der deutschen Schachelite, unter ihnen Robert Hübner, Dr. Helmut Pfleger, Stefan Kindermann, Raj Tischbierek, Artur Jussupow, Horst Metzing oder Ralf Lau, vertrauten ihm ihr Erspartes an – in einigen Fällen alles, was sie hatten. Drei Millionen habe Jellissen, der Ende 1994 plötzlich an einem Herzinfarkt verstarb, allein von Schachspielern akquiriert. Von dem Geld sei am Ende nichts mehr da gewesen. Der Spiegel drückte es so aus: »Mit bis zu 680.000 Mark pro Person bezahlten die scharfen Analytiker ihre Schnäppchen-Mentalität.«

      Schach boomte dennoch zu dieser Zeit. Ich besuchte die Turniere in Nowgorod, Riga und den Niederlanden. Vor allem die Niederländer waren im Schachfieber. Sie veranstalteten mit Wijk aan Zee, Amsterdam, Tilburg und Groningen die meisten Topevents weltweit. Das begeisterungsfähigste Publikum erlebte ich jedoch im Belgrader Sava Centar. 8.000 bis 10.000 Zuschauer an einem Turniertag waren dort keine Seltenheit.

      

13

      Unberührt von den Rückschlägen in den Kandidatenmatches brachte die fantastische Turnierbilanz des Jahres 1995 Kramnik am 1. Januar 1996 auf den ersten Platz der Weltrangliste. Im Alter von nur 20 Jahren stellte er damit einen neuen Rekord auf: Noch nie war einem so jungen Spieler dieser Coup gelungen. Der Rekord hielt 14 Jahre und wurde erst vom amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen im Januar 2010 gebrochen. Ein großes Ziel war erreicht, das andere sollte noch fünf Jahre auf sich warten lassen.

      Nach dem Dortmunder Turniersieg 1995 traf Kramnik eine unerwartete Entscheidung: Er stimmte einem Engagement im Team des amtierenden Weltmeisters Garri Kasparow anlässlich dessen WMKampf gegen Viswanathan Anand zu. Und das, obwohl er zu dieser Zeit bereits auf dem Weg zur Nummer eins war und längst als härtester Konkurrent Kasparows galt.

      Dieser Entschluss kam mir zunächst ziemlich suspekt vor, denn finanzielle Motive waren für Wladimir noch nie ausschlaggebend. Im Freundeskreis diskutierten wir über seine möglichen Beweggründe: Kann er wieder nicht nein sagen? Ist er Kasparow zu Dank verpflichtet? Warum dem Weltmeister helfen, wo er doch selbst Ansprüche auf den Schachthron haben sollte? Weshalb hat der Mann nicht größere Ziele? In der obersten Etage des World Trade Centers schlug Kasparow mit Unterstützung Kramniks den chancenlosen Inder deutlich mit 10,5:7,5. Vier Siegen Kasparows stand nur eine Niederlage gegenüber.

      Irgendwann verstand ich Kramnik in dieser Angelegenheit besser. Einfach, weil ich ihm später über viele Jahre hinweg Tag für Tag zur Seite stand und sein Wesen einzuschätzen lernte. An seine eigenen Chancen auf den Weltmeistertitel dachte er nämlich im Gegensatz zu seinem Umfeld kaum. Er war einfach nur neugierig darauf, so einen Wettkampf und auch Kasparow auf diesem Niveau einmal hautnah erleben zu können.

      In fünf Jahren würden ihm die in New York gemachten Erfahrungen wichtige Hinweise geben, obwohl das gar nicht seine Absicht war. Er lernte, wie außerordentlich hart und professionell Kasparow und sein Team mit Computerunterstützung arbeiteten. Er erlebte, wie rigoros Kasparow mit seinem Gegner umging: Garris emotionale Ausbrüche während der Partien; Kasparow, der Schauspieler, der bereit ist, alles für den Sieg zu geben. So wollte Kramnik ganz und gar nicht sein. Aber bis zu einem gewissen Grad machten ihn Kasparows Aktionen immun gegen das Gehabe des 13. Weltmeisters, auch außerhalb des Schachbrettes. Natürlich konnte er nicht wissen, ob und wann er gegen ihn tatsächlich um die Weltmeisterschaft spielen würde. Als Kramnik