wird nie vollends geklärt. Fest steht, dass Gegenspieler den genialen Dribbler mit verbalen Grätschen leichter stoppen können als mit harter Manndeckung. Duisburgs Linksverteidiger Michael Bella erweist sich mit dieser fiesen Masche wiederholt als besonders erfolgreich. Libuda bleibt auch für Gutendorf unberechenbar. Einmal Alleinunterhalter, beim nächsten Mal Stehgeiger. Libuda ist für den erfahrenen Coach eine große Herausforderung. Der misst sich und seine Arbeit daran, den Rechtsaußen wieder in die Spur zu bringen. Es ist sein höchstpersönlicher Anspruch, den Publikumsliebling wieder zum Nationalspieler zu machen.
Auch die Medienarbeit pflegt der Weltenbummler wie kein Zweiter. Gutendorf geht auf die Pressevertreter zu, ruft sie, wenn nötig, an und hat für ihre Fragen stets ein offenes Ohr. Aus seiner Zeit in den USA hat er die Öffentlichkeitsarbeit schätzen gelernt. Als er seinen Kader morgens um sechs in Trainingskleidung vorm Zechentor antreten lässt, hat er gleich zweierlei im Sinn. Den Kumpels zeigen, dass auch ihre Idole hart und früh malochen, und die Mannschaft wachrütteln. Einige waren zuvor häufiger zu spät zum Training erschienen. Nach der Aktion tritt Besserung ein.
Die Gegenspieler beschreibt er in flammenden Reden als „Unsympathen“. Nach der Auftaktniederlage bei Hertha warnt er vor dem richtungsweisenden Spiel gegen Frankfurt: „Die wollen euch die Punkte stehlen, eure Prämien kassieren. Die wollen, dass ihr absteigt. Die wollen euch eure Existenz rauben!“ Als beide Teams eine halbe Stunde vorm Anpfiff erstmals den Platz betreten, wundern sich die Frankfurter, dass die Schalker ihren Blicken verstohlen ausweichen. Jedwede Form der Begrüßung, Händeschütteln und Ähnliches, ist selbst unter alten Bekannten strengstens untersagt. Obwohl mancher Spieler die Maßnahme gewöhnungsbedürftig findet, wirkt sie irgendwie. Schalke gewinnt 2:0. Es ist der Beginn einer wundersamen Auferstehung. Die Niederlage zum Auftakt in Berlin bleibt die einzige – bis zum letzten Spieltag, einem 0:1 in Frankfurt. Schalke ist mit 27:7 Punkten die beste Rückrundenmannschaft, belegt am Ende Platz sieben. Die beste Platzierung in der Bundesligageschichte.
Und noch gibt es die einmalige Gelegenheit, die tolle Saison zu krönen. Am 14. Juni 1969 steht Königsblau erstmals seit 14 Jahren wieder im Pokalfinale. Der Weg dahin begann am 4. Januar mit einem 3:2 nach Verlängerung bei Regionalligist Rot-Weiß Oberhausen. Es folgte ein Heimsieg gegen einen weiteren Regionalligisten, 3:1 gegen den SV Alsenborn. Im Viertelfinale wurde Aachen 2:0 bezwungen. Im Halbfinale kam es nach einem 1:1 in Kaiserslautern zu einem Wiederholungsspiel in der Glückauf-Kampfbahn. Dank eines überragenden Heinz van Haaren, der neben Pohlschmidt auch noch zwei Treffer erzielte, siegte Schalke 3:1.
Dumm nur, dass der Finalgegner Bayern München heißt. Die Bayern schicken sich an, nach Schalke 1937 als zweiter deutscher Verein das Double zu holen. Dumm auch, dass sich Schalkes wichtigster Mann früh verletzt. Heinz van Haaren, nach Problemen am Ischiasnerv fit gespritzt, erleidet im Zweikampf mit Gustl Starek einen Pferdekuss. Weil er fortan nicht mehr richtig auftreten kann, bittet er Rudi Gutendorf um seine Auswechslung. Der aber schreit kopfschüttelnd vom Spielfeldrand: „Mach weiter!“ In der Pause bekommt der Spielmacher die nächste Spritze. Gutendorf fordert ihn ein weiteres Mal auf, durchzuhalten. Bayern führt 2:1 durch zwei Müller-Tore, nachdem Pohlschmidt zwischenzeitlich ausgeglichen hat. In der zweiten Hälfte schleppt sich van Haaren, für jeden der 64.000 im Frankfurter Waldstadion deutlich erkennbar, nur noch schwerfällig über den Platz. Eine Viertelstunde vor Schluss hat auch Gutendorf ein Einsehen, erlöst van Haaren und bringt Waldemar Slomiany.
Am Ergebnis ändert das nichts mehr. Den Pokal bekommt Bayern-Kapitän Werner Olk in die Hände gedrückt. Rudi Gutendorf und Heinz van Haaren gehen sich am Abend bei der Mannschaftsfeier im Hotel aus dem Weg. Erst am nächsten Tag, auf der Rückfahrt mit dem Zug, treffen sie sich wieder. Auf dem schmalen Gang müssen sie sich aneinander vorbeischieben. Der Trainer würdigt seinen Spielmacher dabei keines Blickes. Noch Jahre später wird er ihm vorhalten, dass sie das Spiel gewonnen hätten, wenn van Haaren drin geblieben wäre.
Um 13.17 Uhr rollt der Eilzug aus Frankfurt auf dem Gelsenkirchener Hauptbahnhof ein. Die Bergwerkskapelle Consolidation intoniert das Vereinslied „Blau und Weiß“. Spieler der Jugendmannschaften bilden ein Spalier am Bahnsteig. Auf dem Bahnhofsvorplatz drängt sich die blauweiße Masse. Beim offiziellen Teil im Hans-Sachs-Haus erinnert OB Scharley unter lauten Bravorufen an die Worte von DFB-Präsident Dr. Gösmann. Der hatte nach dem Finale gesagt, auch Schalke wäre ein würdiger Pokalsieger gewesen. Gutendorf und 17 Spieler erhalten die silberne Ehrennadel der Stadt.
Unter ihnen ist auch Aki Lütkebohmert. In Frankfurt hat er nur auf der Bank gesessen. Dennoch ist er am Ende des Tages nicht unglücklich. Die Feier ist auch für ihn der krönende Abschluss einer bemerkenswerten ersten Saison. Dabei ist er so richtig auf den Geschmack gekommen. Abends in Heiden zeigt er seinen Eltern stolz die Anstecknadel: „Beim nächsten Mal möchte ich die goldene haben!“
Wiedersehen mit Europa
Dank des Einzugs ins Pokalfinale, so viel stand vorher schon fest, reist Schalke erstmals seit zehn Jahren wieder durch Europa. Die Vorfreude auf die Saison ist groß, zumal der Präsident auf seinem Weg, eine große Mannschaft aufzubauen, wieder ein Stück weitergekommen ist. Mit Klaus Scheer, Rolf Rüssmann und Jürgen Sobieray hat Siebert drei Jugend-Nationalspieler verpflichtet. Die Verjüngungskur schreitet voran. Alle drei sind 18 Jahre alt und gelten bundesweit als echte Perspektivspieler. Klaus Scheer hat eigentlich eine Vorliebe für den 1. FC Köln. Wolfgang Overath ist sein Idol. In der westdeutschen Jugendauswahl spielt er mit Bernd Cullmann zusammen. Die Kölner signalisieren ihm früh ihr Interesse. Doch dann tritt Günter Siebert auf den Plan.
Nach einem Spiel der westdeutschen Auswahl gegen die Jugend-Nationalelf der CSSR in der Glückauf-Kampfbahn fragt Siebert Scheer, ob er sich einen Wechsel nach Schalke vorstellen könne. Es ist Oktober 1968 und noch eine Menge Zeit bis zur Wechselfrist im Mai. Siebert weiß um die Konkurrenz aus Köln und besucht Scheer in regelmäßigen Abständen zuhause in Siegen. Auch die Länderspiele des DFB-Nachwuchses lässt der Präsident nicht aus, um Scheer, aber auch Rüssmann und Sobieray seine Aufwartung zu machen. Der Blondschopf mit den markanten Schneidezähnen ist beeindruckt. Während sein Vater zuhause noch mit anderen Vereinen spricht, sagt er Siebert im April 1969 zu. Es ist vor allem die Perspektive, zu spielen, die ihn überzeugt. Beim FC in Köln am Gala-Mittelfeld Overath, Flohe und Simmet vorbeizudribbeln, das traut sich Scheer einfach nicht zu. Die Möglichkeit, mit dem ebenfalls aus Siegen stammenden Gerhard Neuser eine Fahrgemeinschaft bilden zu können, erleichtert ihm die Entscheidung zusätzlich.
Rolf Rüssmann wohnt und spielt in Schwelm, vor den Toren Dortmunds. Er liebäugelt mit einem Wechsel zur Borussia, hat dort bereits einen Vorvertrag unterschrieben. Doch auch ihn weiß Schalkes Präsident zu umgarnen und mit verheißungsvollen Worten umzustimmen. Rüssmann, Vorstopper mit zu diesem Zeitpunkt beschränkten fußballerischen Fähigkeiten, ist Feuer und Flamme für das Schalker Modellprojekt.
Die Verpflichtung von Jürgen Sobieray dagegen erweist sich als schwierigstes Unterfangen. Ausgerechnet Sobieray, der Junge aus dem Gelsenkirchener Stadtteil Resse, den viele als das größte Talent unter den drei Auswahlspielern betrachten. Der wichtigste Baustein im Entwurf des Architekten Siebert. Ausgerechnet hier gibt es Pfusch am Bau. Oskar, der Baumeister, ist einen Moment lang ratlos, als ihm Sobieray – trotz guter Vorgespräche – erklärt, er habe in Mönchengladbach unterschrieben. Doch Siebert wäre nicht Siebert, gäbe er den Kampf um den Rechtsverteidiger damit bereits auf. Er spricht eindringlich mit Sobieray, seinen Eltern und – noch wichtiger – mit Mönchengladbachs Trainer Hennes Weisweiler. Am Ende fließen 25.000 Mark Entschädigung in die Kasse des Bökelberg-Klubs.
Weil ihm die Geschichte nach dieser Erfahrung aber nicht mehr ganz geheuer ist, entschließt sich Siebert, seine drei frisch erworbenen Schätze nicht mehr aus den Augen zu lassen. Pfingsten reist er ihnen eigens zum UEFA-Jugend-Turnier in die DDR nach. An seiner Seite: Wachhund Ede Lichterfeld, Sieberts Mann für besondere Aufgaben.
Der Trabrenn-Fan ist in der Nähe der Glückauf-Kampfbahn aufgewachsen. Schalkes früheres Vorstandsmitglied Karl Stutte, ein Fleischwarenhändler, besorgte ihm eine Ausbildung. Lichterfeld verkaufte erst Kosmetikartikel, später Versicherungen. Siebert lernt er beim gemeinsamen Trainerlehrgang für den B-Schein kennen. Nach seinem Amtsantritt erinnert sich