Verhalten! Das ist wohl eine der wesentlichsten Erkenntnisse, wenn Sie durch die »Systembrille« auf die Welt schauen. Gleichzeitig reicht diese eine Erkenntnis nicht, um Systeme zu verstehen. Aus diesem Grund kläre ich mit Ihnen in dem nun folgenden Crashkurs die wichtigsten Aspekte sozialer Systeme.
Wann ist etwas überhaupt ein System? Die kurze Antwort lautet: Sobald es Wechselwirkungen gibt.
Ein Haufen Hundeleckerli ist eine Sammlung; Sie können beliebige Elemente hinzugeben oder entfernen, es bleibt ein Haufen. Der Mensch an sich (hier die Hundebesitzerin) ist ein komplexes System. Der Hund ebenfalls. Beide Körper erfüllen einen übergeordneten Zweck, das Überleben. Sichergestellt wird dieser über die Wechselwirkungen der einzelnen Elemente wie Herz, Gehirn, Muskeln, Knochen, Lunge, Blutkreislauf (ein System im System) und die weiteren Organe und Elemente. Gehen wir mit unserem Blick eine Ebene höher, weg von den Körpern und hin zu dem Mensch-Hund-Gespann, sehen wir auch ein System. Hund und Mensch interagieren und stehen in Wechselwirkung zueinander.
Ein System besteht aus Elementen, die miteinander verknüpft sind. Die so entstehenden Wechselwirkungen sorgen dafür, dass ein bestimmtes Ziel oder ein bestimmter Zweck erreicht wird.
Nachfolgend einige wesentliche Punkte, die Sie über soziale Systeme wissen sollten:
• Die wichtigsten Facetten sind ihre Elemente, ihre Struktur und ihr Zweck.
Elemente können materieller und immaterieller Art sein. Die Struktur (also die Verknüpfungen) lässt sich nur mit guter Beobachtung verstehen.
Der Zweck ist ebenfalls nicht immer gleich offensichtlich und hat mit dem offiziell formulierten nicht unbedingt viel gemein.
»The purpose of a system is what it does.« (Stafford Beer)
• Soziale Systeme sind nicht sicht- oder anfassbar, was es herausfordernd macht, sie zu benennen.
• Durch die Verknüpfungen entsteht Dynamik und damit immer ein Faktor von Zeitdruck. Systeme entwickeln sich stetig weiter und warten auf nichts und niemanden.
• Intransparenz entsteht durch die Menge an Wechselwirkungen. Es ist nicht möglich, ein Team oder eine Organisation vollständig in all ihren Verknüpfungen zu beschreiben. Wir betrachten immer nur Ausschnitte.
• Systeme sind vergangenheits-orientiert. Das, was sich einmal bewährt hat, hat die Tendenz zur Verfestigung.
• Systeme können nicht zentral gesteuert werden. Ihr Regelungsmechanismus ist Feedback. Dabei geht es nicht darum, einem anderen Menschen per Ich-Botschaft eine Meinung kundzutun, sondern Dynamiken im System zu sehen (siehe das nächste Unterkapitel: »Beobachten und beschreiben«).
• Systeme verhalten sich häufig kontraintuitiv und reagieren zeitverzögert.
• Systeme sind operational geschlossen. Das bedeutet, dass ihre Struktur nur durch die eigenen Wechselwirkungen bestimmt ist. Ein »Durchgriff« von außen, der die interne Struktur (nicht zu verwechseln mit der formalen Struktur) ändert, existiert nicht. Systeme sind somit quasi auf Selbstorganisation angewiesen.
• Systeme sind selbstorganisiert. Der grundlegende Aspekt hierbei ist, dass solche Systeme durch die Wechselwirkung ihrer Elemente eine Ordnung entstehen lassen. Diese können sie auch bei Störungen von außen aufrechterhalten. Selbstorganisation kann nicht »gemacht« werden, aber die systeminhärente Selbstorganisation kann durch ein Zuviel an Bürokratie, Vorgaben, Kontrolle oder Prozesse behindert werden.
Beobachten und beschreiben
Sie beobachten, das Team tut es und die Organisation ebenfalls. Vor allem beobachten diese Systeme sich selbst und das, was sie tun. Das ist Beobachtung 1. Ordnung. »Beobachtung« bedeutet, zu unterscheiden und zu benennen; das ist die Operation des Beobachtenden. »Der Unterschied, der einen Unterschied macht« – so der Kybernetiker Gregory Bateson, der damit deutlich macht, dass der Unterschied beim Beobachter liegt. Ob eine Führungskraft, eine Kollegin oder ein externer Berater ein »agiles Team« beobachten, ändert am agilen Team per se nichts. Welche Rückschlüsse die jeweiligen Beobachter aus ihren Betrachtungen ziehen und welches Verhalten sie daraus ableiten, wirkt aber sowohl auf das Team als auch auf den Beobachtenden. Es lässt sich jedoch nie ausmachen, wie gut oder umfassend das Beobachten ist. Es entsteht immer ein blinder Fleck. Ein Team oder eine Organisation beobachten eben auf ihre Weise, systemgegeben. Im Laufe der Zeit etabliert sich ein begrenzter Blick auf die Welt, auf sich selbst und die Umwelt. Das, was beobachtet wird, kann benannt werden. Das, was nicht beobachtet wird, nicht.
»Ich sehe was, was du nicht siehst«
Sie selbst sind just in diesem Moment ein Beobachtender 2. Ordnung, denn Sie lesen die hier aufgeschriebenen Ergebnisse meiner Beobachtungen. Ich schreibe über etwas, das für Ihren Arbeitsalltag relevant ist (sonst hielten Sie vermutlich dieses Buch nicht in den Händen), aber eben aus meiner Perspektive. Sie lesen in diesem Buch über Ihren Alltag mit einem anderen Blick, mit anderen Interpretationen und Schlussfolgerungen. Für Sie als Leser oder Leserin entsteht eine eigene Realität, die sich von Ihrer eigentlichen unterscheidet. Die Realität wird quasi gedoppelt, und das führt dazu, dass Ihre gewohnte infrage gestellt werden kann. Das, was für Sie bisher nicht hinterfragbar war, wird mit der Möglichkeit zur Veränderung versehen, allein dadurch, dass Sie meine Beobachtungen beobachten. Denn Sie werden irritiert und es taucht die Frage nach der »richtigen« Sichtweise auf. Die Irritation rüttelt an Ihren Vorurteilen und Überzeugungen, was zu Erkenntnissen, Aha-Erlebnissen und aktualisierten mentalen Modellen führen kann. Aber eben kann. Eine klare Ursache-Wirkungs-Relation lässt sich natürlich nicht aufmachen. Was Sie, liebe Leserinnen und Leser, als komplexe Systeme, die Sie sind, daraus machen, kann ich nicht vorhersagen. Warum aber ist es wichtig, den Prozess des Beobachtens hier zu erwähnen? Weil er immer stattfindet und enorm wichtig ist, wenn es darum geht, Systeme zu verstehen und passende Interventionen zu finden.
»Das Ideal der zweiwertigen Logik, wonach Aussagen entweder ›wahr‹ oder ›falsch‹ zu sein haben bzw. sind und etwas Drittes nicht möglich ist, ist ein typisches Landkartenphänomen, d. h. ein Merkmal des Zeichensystems, ein Artefakt, das durch den Beobachter produziert wird; die tatsächlich existierende Welt ist immer voller Widersprüche, Antagonismen, Unklarheiten, Vieldeutigkeiten und Oszillationen; daher ist Ambivalenz eigentlich die für Beobachter angemessene Normalverfassung; das macht es für den Beobachter nötig, immer wieder neu zu entscheiden, obwohl es keine sicheren Kriterien für die ›Richtigkeit‹ der Entscheidung gibt; das gilt für Entscheidungen über Beschreibungen von Phänomenen ebenso wie für Entscheidungen über ihre Erklärung und Bewertung und schließlich auch und vor allem für die daraus abzuleitenden Handlungskonsequenzen.« (Fritz B. Simon 2020, S. 116)
Um das Wie der Realitätskonstruktion geht es bei der Beobachtung 2. Ordnung, also bei dem, was Sie gerade tun, während Sie hier lesen. Sie erkennen meine Wirklichkeitskonstruktion und vollziehen meine Interpretationen nach. Es ist die zentrale Beobachterperspektive, wenn wir Organisationen beeinflussen wollen. Ohne Beobachtung (und Benennung) keine Hypothesen. Ohne Hypothesen keine Interventionen. Ohne Interventionen keine Irritation. Beobachten kann jeder, Beobachtete beobachten ebenfalls. Aber niemand hat den vollständigen Blick auf alles, wir betrachten immer nur Ausschnitte. Und dabei, das sei noch einmal deutlich erwähnt, sind alle Beobachtungen bzw. ihre Ergebnisse Konstruktionen. Sie sind unvollständig und subjektiv, also kritisierbar. Dieser Punkt lässt sich nicht auflösen, was aber auch nicht weiter schlimm ist. Lassen sich Beobachtungen so doch hervorragend für einen konstruktiven Diskurs nutzen.
Meiner Erfahrung nach können Menschen sehr gut Auskunft über das Was geben. Die Fakten und das Fachliche stehen in der Kommunikation miteinander klar im Vordergrund. Die Reflexion auf das Wie darf gerne noch