stark frequentiertem Ort mit der Vorsilbe »Bad«, wo die Zeit stehen geblieben war, hielten sich Touristen fern, wurden Hotels geschlossen und standen als »Lost Places« am Straßenrand.
Für Isabel stand fest, dass sie ihr Hotel davor bewahren würde. Für den Conradshof sollte es weitergehen, und wenn es nach ihr ginge, mehr als ein paar Jahre, zumal der Trend ja immer mehr zu Regionalität und Heimat ging.
Nie wäre sie wie Sabrina, ihre Freundin und Kollegin aus der Küche, ins Ausland, ja auf einen anderen Kontinent gegangen, um dort ihren Beruf auszuüben. Zu sehr liebte sie ihren Schwarzwald, ihre Familie, und zu sehr hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, dem Conradshof etwas mehr Frische zu verleihen und ihn vom angestaubten Image der alten Tage zu befreien.
Jetzt, als sie in Freudenstadt in dem kleinen Café auf dem Marktplatz den letzten Schaum ihres Cappuccino aus der Tasse löffelte, dachte sie an den Anruf aus Südafrika vor gut zehn Tagen und Sabrinas Vorschlag, an diesem Kochwettbewerb auf der Gourmet Voyage, der bekannten Genuss-Messe in Stuttgart, teilzunehmen.
»›Schwäbische Küche für die Welt – raffiniert serviert‹ heißt der Wettbewerb«, hatte Sabrina euphorisch gesagt. »Das ist doch genau dein Ding!« Und Sabrina hatte recht.
»Zudem hätten wir dadurch eine reale Chance, uns endlich mal wiederzusehen«, hatte sie noch angefügt, »immerhin erwartet den Sieger eine Reise nach Südafrika. Und du würdest an meiner Seite für eine Gala auf einem Weingut am Kap ein schwäbisch-südafrikanisches Menü kreieren und zaubern. Was hältst du davon?«
»Ich bin dabei!«, hatte Isabel spontan gesagt, denn die Idee, an einem Kochwettbewerb mit realen Siegeschancen teilzunehmen und sich dazu wie in alten Zeiten mit Sabrina die Kochschürze umzuhängen, gefiel ihr mehr als gut. Sie würden todsicher eine tolle gemeinsame Zeit miteinander haben, wie immer, wenn sie sich nach all den Jahren, die sie sich nun kannten, trafen.
So hatte Isabel keine zwei Stunden nach Sabrinas Anruf eine Teilnahmebestätigung in der Hand gehalten. Jetzt musste sie ihre Freundin in Südafrika unbedingt erreichen und war doch etwas beunruhigt, weil Sabrina auf keine WhatsApp reagierte und schon seit zwei Tagen nicht mehr online war.
»Vollmondnacht«, dachte Belinda Sommer, während sie die letzten fünf Packungen antiallergische Augentropfen in das Glasregal stellte, »heute ist eine laue Vollmondnacht vorhergesagt, und du hast später noch Notdienst in der Apotheke!«
Sie stieg von dem Klapptritt und strich den weißen Kasack glatt, den sie und ihre Kolleginnen auf Wunsch des Chefs zu tragen hatten. Wenigstens war die Jacke figurbetont geschnitten, hatte kurze Ärmel und einen V-Ausschnitt, der ihr Luft zum Atmen ließ. Und die brauchte sie mehr denn je in diesen Tagen.
Wie lange hielt ihre Pechsträhne jetzt schon an? Drei Wochen? Vier? Wenn sie ehrlich zu sich war, schon viel länger. Der Stress mit ihren Eltern währte schon, seit sie die Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin gemacht hatte, statt im elterlichen Weinlokal im Herzen der Altstadt von Rottenburg zu bedienen.
Und das mit Alex? Hatte sich – wenn sie ehrlich war – auch schon seit Monaten angebahnt. Doch was für sie am schlimmsten war: Selbst Oma, bei der sie jederzeit Schutz und guten Rat gefunden hatte, war nicht mehr ansprechbar, seit Opa sich auf Mallorca mit diesem Traum vom eigenen Weingut selbst verwirklichen wollte.
Belindas offene Art war, zusammen mit ihrem oft dunklen Humor und dem frechen Grinsen, ein Erbstück ihrer Oma, mit der sie ihre halbe Kindheit und Jugend in der Küche des großelterlichen Weinlokals verbracht hatte. »Das hast du von deiner Großmutter« – wie oft bekam sie das bis heute von ihren Eltern zu hören, wobei Opa oft lachend hinzufügte: »Das kann nicht sein, die hat das noch!«
Die PTA, wie man ihren Beruf abkürzte, nahm die Päckchen mit Vitamin-D3-Tabletten und füllte das nächste Regal auf. Sie trug ihr schulterlanges dunkles Haar zu einem sportlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, was nicht nur im Dienst praktisch war und morgens schnell ging, sondern auch ihre Sommersprossen im leicht gebräunten Gesicht, ihre Stupsnase und ihre strahlend weißen Zähne noch mehr zum Ausdruck brachte.
Belinda, die sowohl unter ihren Freunden als auch bei ihren Kolleginnen und den Kunden in der Apotheke hinterm Rottenburger Dom als Frohnatur bekannt war, hatte bei ihrer Körpergröße von 1,75 Meter vielleicht nicht ganz die Traummaße eines Models, war aber dennoch beim täglichen Blick in den Spiegel mit ihrem Aussehen und ihrer Figur sehr zufrieden. Die Endzwanzigerin konnte sich nicht wirklich über mangelndes Interesse der Männerwelt an ihrer Person beschweren, jedoch war unter den Typen, die ihr in den letzten Wochen teils mühevoll ihre Telefonnummer entlocken konnten, keiner dabei gewesen, von dem sie nach einem ersten Treffen ein Wiedersehen herbeigesehnt hatte.
»Gut, vielleicht ist es sogar besser, dass du heute Nacht Notdienst hast«, sinnierte sie weiter, »sonst würdest du noch frustriert zu Hause sitzen und in deiner Einsamkeit deinen Weinvorrat plündern. Oder womöglich aus Langeweile bei deinen Eltern im Lokal bedienen? Oder dich fragen, wieso du nicht, wie die anderen in deinem Alter, verliebt den Vollmond anschmachten kannst oder zumindest ein Date mit einem interessanten Typen hast.«
Dabei wusste sie nur zu gut, dass die meisten ihrer Freundinnen weder verliebt zu Hause saßen noch diesen doofen Mond anschmachteten – vielleicht allein, aber definitiv nicht zu zweit! Allesamt waren sie gelangweilt und höchstens damit beschäftigt, über das Benehmen ihrer Männer und deren mangelnde Aufmerksamkeit ihnen gegenüber zu schimpfen. Belinda seufzte.
»Selbst schuld«, dachte sie. »Du hättest diesen blöden Streit ja nicht provozieren müssen! Dann wäre Alex jetzt nicht dein Ex!«
Hatte sie deswegen jetzt ein schlechtes Gewissen? Nein, ganz gewiss nicht! Nicht wegen Alex! Ein schlechtes Gewissen hatte sie eigentlich nie.
»Streiche eigentlich. Das Wort braucht kein Mensch.«
Ein schlechtes Gewissen hatte sie nie. Punkt. Dafür hatte sie schon als Kind gesorgt. Immer, wenn sich ein schlechtes Gewissen angeschlichen hatte, war ihr Tinker zu Hilfe gekommen, hatte sie getröstet und ihr eingeredet, dass die anderen schuld waren.
Tinker war ihr Gewissen. Aber nur ihr gutes. Sie hatte ihr gutes Gewissen Tinker genannt, frei nach der guten Fee »Tinkerbell« aus »Peter Pan«, ihrer Lieblingsgeschichte als Kind, die Oma immer vorgelesen hatte. In ihrer Vorstellung saß Tinker wie ein kleiner Falter auf ihrer Schulter und flüsterte ihr ins Ohr, sorgte für ein gutes Gewissen und für gute Laune. Und das war bis heute so geblieben.
Alex war die erste ernsthafte Beziehung für Belinda gewesen. Die große Liebe, wenigstens am Anfang – so viel wusste sie heute. Sie hatten sich gerade mal drei Monate gekannt, als er bei ihr eingezogen war. Sie hatten eine tolle Zeit gehabt, zumindest im ersten Jahr. Doch mit der Zeit hatte sie in ihm das verwöhnte Muttersöhnchen erkannt, das sich zu Hause gerne bedienen ließ, durch gnadenlose Selbstüberschätzung oftmals übers Ziel hinausschoss und dadurch für so manche peinliche Situation in ihrem Beisein sorgte.
Ihre Oma mochte ihn deshalb nie wirklich, und spätestens, als sie sie einmal fragte, ob sie denn tatsächlich vorhabe, ihre besten Jahre mit diesem »Großkotz« zu vergeuden, dachte Belinda immer wieder darüber nach, ihm den Laufpass zu geben.
Einen Anlass bot er ihr aber nie, so war es nur dem Zufall zu verdanken, dass sie ihn eines Abends, als sie nach dem Dienst in der Apotheke wieder einmal im Lokal ihrer Eltern bedient und früher Schluss gemacht hatte, in trauter Zweisamkeit in einer Kneipe erspähte.
Der Tag war sowieso nicht auf ihrer Seite gewesen, der Chef hatte seine Laune mal wieder an seinen Angestellten ausgelassen, und jetzt auch noch diese Begegnung! Belinda hatte sich beherrscht und war zügig nach Hause gegangen. Sie beschloss, auf den Scheißtag mit einem ordentlichen Schluck Chardonnay anzustoßen. Drei Stunden später saß sie immer noch in ihrer Lieblingsecke in der Küche ihrer gemütlichen Zweizimmerwohnung, und ihre Wut über das, was der Tag ihr beschert hatte, steigerte sich mit jedem Schluck. Als Alex schließlich nach Hause kam, erkannte sie an seinem »Hallo Träubchen« und seinem süffisanten Blick sofort, dass das Bier, das