stand er durchaus immer noch oft am OP-Tisch. Doch diese Termine waren geplant wie fast alles in seinem Arbeitsalltag. Für Notfälle, die überraschend in die Klinik kamen, waren seine Mitarbeiter zuständig. Deshalb war die Herausforderung im Rettungswagen so wichtig wie das regelmäßige Sportpensum.
Vorsichtshalber rief sich Dr. Norden noch einmal ins Gedächtnis, was bei einem schwer verletzten Unfallopfer auf ihn zukommen könnte. Dachte an die wichtigsten Medikamente und Maßnahmen bei Polytraumen – gleichzeitig erlittene, mitunter lebensbedrohliche Verletzungen verschiedener Körperregionen –, wie es bei einem Autounfall so oft der Fall war.
Der Verkehr wurde dichter, als die Unfallstelle in Sicht kam. Das Blaulicht der ersten Einsatzfahrzeuge wirkte grell gegen den grauen Winterhimmel. Und dann sahen sie es.
»Ein Gärtner, der sich als Rennfahrer versucht.« Erwin schüttelte den Kopf und griff nach dem Defibrillator.
»Ein klarer Fall von Selbstüberschätzung«, erwiderte Daniel Norden und schulterte den Rucksack, auf dem in leuchtenden Buchstaben ›Trauma‹ geschrieben stand.
»Oder falscher Berufswahl.«
Unter den Füßen der Ärzte knirschte das Pulver, das die Feuerwehr zum Binden des auslaufenden Benzins gestreut hatte. Sie näherten sich dem Lieferwagen, der so deformiert war, dass man die Aufschrift der Gärtnerei kaum noch lesen konnte. Die Motorhaube umarmte den Brückenpfeiler. Schläuche, Metall und Plastik hingen heraus wie Eingeweide. Glasscherben glitzerten, als die Sonne durch ein Loch in den Wolken fiel.
»Ein Wunder, dass diese Rostlaube noch so ein Tempo drauf bekommen hat«, bemerkte Dr. Huber. Die Jahre als Rettungsarzt waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Es gab nur noch wenig, was ihn schocken konnte. In aller Seelenruhe ging er auf einen Ersthelfer zu, der eine Infusion hochhielt. »Na, was habt ihr für uns?«
»Eine leicht verletzte Person. Sie wird ambulant versorgt. Schlimmer erwischt hat es die Frau. Sie ist eingeklemmt, aber ansprechbar. Blutdruck 110 zu 70. Herzfrequenz 90. Zum Glück war das Fenster kaputt. Wir haben eine Zervikalstütze angelegt und einen Zugang gelegt. Aber keine Angst. Für euch bleibt noch genug Arbeit.«
Die Erleichterung darüber, dass nun andere für die medizinische Versorgung verantwortlich waren, stand dem Helfer ins Gesicht geschrieben.
»Dann wollen wir mal.« Erwin sah zu Daniel hinüber.
Der Klinikchef stand neben dem Wagen. Der Anblick des linken Armes, der schlaff aus dem Autofenster hing, raubte ihm den Atem.
*
»Einen wunderschönen guten Morgen allerseits«, rief Dr. Milan Aydin, während er den Rollstuhl durch die Tür des Aufenthaltsraums bugsierte.
Schwester Elena sprang auf, um ihrem Kollegen zu Hilfe zu eilen. Ihr Apfel kullerte über den Tisch, fiel über die Kante und hüpfte über den Boden, bis er unter einem der Spinde verschwand.
»Das hast du nun davon, dass du einem Krüppel behilflich bist«, scherzte Dr. Matthias Weigand, seines Zeichens Leiter der Notaufnahme.
»Stimmt. Ich hätte es wissen müssen«, erwiderte Elena und zwinkerte Milan zu. »Und nur zu deiner Information: Diese Tageszeit nennt man üblicherweise Mittag.«
»Dann bin ich schuld, dass jetzt dein Mittagessen unter dem Schrank liegt?« Vergeblich bemühte sich Milan um eine zerknirschte Miene.
»Könnte man so sagen. Wo kommst du um diese Uhrzeit her?« Elena kniete auf dem Boden und streckte sich nach dem Apfel.
»Ich habe verschlafen.«
»Ein Wunder, dass du in dieser Räucherkammer überhaupt ein Auge zutun kannst.« Mit Schaudern erinnerte sie sich an den Schmorbrand in der Wohnung des Kollegen.
Ein überlasteter Mehrfachstecker war ihm zum Verhängnis geworden.
»Egal. Wenn ich meinen Dienstplan so ansehe, könnte ich eigentlich gleich auf dem Sofa hier schlafen.« Milan Aydin fuhr hinüber zum Spind und tauschte den Anorak gegen einen Kittel.
Mit dem staubigen Apfel in der Hand tauchte Elena neben seinem Rollstuhl auf.
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Warum nicht?« Milan legte den Kopf schief. Sah ihr tief in die Augen. »Hast du eine bessere Idee?«, fragte er mit diesem gewissen Timbre in der Stimme, dem die Frauen selten widerstehen konnten. »Ich meine, jetzt, nachdem dein Mann dich verlassen ha …«
Eine Akte landete klatschend in seinem Schoß. Dr. Aydin zuckte zusammen. Sah hoch und direkt in Matthias Weigands breites Grinsen.
»Kleiner Tipp. Statt dich an unseren Mädels zu vergreifen, solltest du dich lieber um den Patienten in der Eins kümmern.«
»Kannst du das nicht übernehmen? Ich hatte noch nicht einmal einen Kaffee heute.
»Tut mir leid. Ich habe gleich Feierabend.«
»Aber es ist doch erst fünf vor eins.«
»Eben. Komm, ich bring dich hin.«
Milan Aydin blieb nichts anderes übrig, als der einladenden Geste des Kollegen zu folgen. Am Ende des Flurs verabschiedeten sie sich voneinander. Dr. Aydin fuhr bis zur Tür mit der großen, schwarzen Eins darauf. Er drückte die Klinke herunter. Und schnappte nach Luft.
»Und das ausgerechnet mir!« Fassungslos starrte er auf die drei Männer in schwarzen Kutten. Er, der Lebemann und Frauenliebhaber, sollte ausgerechnet Mönche behandeln? »Manchmal hat das Schicksal wirklich Humor.«
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte einer der Brüder sichtlich besorgt.
»Alles bestens.« Milan rang sich ein Lächeln ab. »Mein Name ist Dr. Aydin. Was kann ich für Sie tun?«
»Zeig ihm deine Hände, Pirmin«, forderte Bruder Augustinus seinen Mitbruder auf.
Pirmin tat, wie ihm geheißen. Unterarme und Handrücken waren übersät mit roten Quaddeln und Pusteln. In den Handflächen waren sie aufgeplatzt und bluteten.
»Bitte werfen Sie einen Blick auf diese Wundmale, Dr. Aydin«, bat der dritte Bruder, der sich als Bruder Basilius vorgestellt hatte. »Wir denken, das könnten Stigmata sein, und erbitten Ihre Meinung dazu.«
Milan riss die Augen auf.
»Sie meinen, jemand hat Ihren Kollegen an ein Kreuz genagelt?«
»Aber nein«, beeilte sich Basilius zu versichern. »So etwas tun wir nicht. Diese göttlichen Zeichen sind ganz von selbst erschienen.«
»Für mich sieht das nach einer sehr weltlichen Allergie aus.« Aydin drehte die Hände des Fraters hin und her. »Hatten Sie in letzter Zeit viel Kontakt mit Wasser?«
»Momentan helfe ich in der Waschküche aus. Wir haben neulich eine Spende von einer Firma bekommen. Waschpulver in großen Mengen. Das habe ich verwendet.«
»Sie hätten lieber verlorenen Seelen die Beichte abnehmen sollen«, platzte Milan heraus. »Das wäre gesünder.«
»Aber diese Aufgabe obliegt Bruder Basilius«, erwiderte Pirmin verwirrt.
»Schon gut!« Milan Aydin winkte ab. Humor war offenbar keine herausragende Eigenschaft dieser Glaubensgemeinschaft. »Ich denke, bei Ihrem Ausschlag handelt es sich um eine Kontaktdermatitis. Sie sind allergisch gegen einen oder mehrere Inhaltsstoffe des Spülmittels.« Er zog das Tablet aus der Kitteltasche, um seine Erkenntnisse in der elektronischen Patientenakte festzuhalten, die eine Schwester bereits angelegt hatte.
Pirmin lächelte erleichtert. Ganz im Gegensatz zu Bruder Augustinus.
»Unsinn«, brummte er in seinen Bart. »In diesen Waschmitteln ist doch überall das gleiche drin.«
Milan sah hoch. Eine steile Falte krauste seine Nasenwurzel.
»Warum kommen Sie zu mir, wenn Sie an meinen Fähigkeiten zweifeln?«
Schweigen. Blicke flogen zwischen den Mönchen hin und her.
»Es