>
Charles Dickens
Oliver Twist
Julius Seybt
Saga
Oliver Twist ÜbersetzerJulius Seybt Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1837, 2020 Charles Dickens und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726479812
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Erstes Kapitel.
Wo und unter was für Umständen Oliver Twist geboren wurde.
Ausser anderen öffentlichen Gebäuden rühmt sich die Stadt Mudfog, gleich den meisten grossen und kleinen Städten, auch eines Armen- und Arbeitshauses; und in diesem wurde an einem Tage und Datum, worüber genaue Auskunft zu erhalten unwichtig für den Leser ist, Oliver Twist geboren. Noch lange nachdem der Kirchspielwundarzt ihn in diese Welt der Sorgen und Mühen gefördert, blieb es sehr ungewiss, ob er am Leben bleiben würde. Es war äusserst schwierig, ihn zum Athmen zu bringen — einem mühsamen Geschäft, das die Gewohnheit uns aber freilich zu einer nothwendigen Lebensbedingung gemacht hat — und er lag eine Zeit lang zuckend und keuchend gleichsam auf der Grenzscheide dieser und jener Welt. Wenn er während dieser Zeit von sorglichen Grossmüttern, geschäftigen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelahrten Doctoren umgeben gewesen wäre, so würde er natürlich die Stunde nicht überlebt haben; allein es war Niemand in seiner Nähe, ausser einer alten, ein wenig bierberauschten Frau und dem Kirchspielwundarzte, der die Geburtshilfe contractmässig leistete, wovon die Folge war, dass Oliver endlich den Hausbewohnern seine Erscheinung in der Welt durch ein lautes Schreien ankündigte. Als er dieses Zeichen des Lebens gab, hob ein bleiches junges Frauenzimmer den Kopf vom Kissen empor, und rief mit matter, bebender Stimme: „Lasst mich das Kind sehen, und sterben!“
Der Wundarzt ermahnte sie, nicht vom Sterben zu reden. „Ach, Sir,“ sagte die Wärterin, „wenn die junge Person erst so alt geworden ist, als ich’s bin, und, wie ich, dreizehn Kinder gehabt hat, die alle todt sind, ausgenommen zwei, die, wie ich selbst, im Armenhause sind, so wird sie keine so traurige Gedanken mehr haben, Sir. Sei Sie ruhig, Kind, und bedenke Sie die Freude, Mutter zu sein.“
Die tröstlichen Worte schienen des gebührenden Eindrucks zu verfehlen. Die Wöchnerin schüttelte den Kopf, und streckte die Arme nach dem Kinde aus. Der Wundarzt reichte es ihr, sie küsste es, heftig erregt, mit den kalten weissen Lippen auf die Stirn, fuhr mit den Händen über ihr Gesicht, blickte wild umher, schauderte, sank zurück — und starb.
„’S ist aus mit ihr,“ sagte der Wundarzt nach einigen vergeblichen Bemühungen, sie wieder zum Leben zurückzubringen.
„Das arme Kind!“ sagte die Wärterin.
„Sie brauchen nicht zu mir zu schicken, wenn es schreit,“ fuhr der Wundarzt fort, während er kaltblütig die Handschuhe anzog. „Es wird wahrscheinlich sehr unruhig sein; geben Sie ihm dann ein wenig Hafergrütze.“
Er setzte den Hut auf, trat aber noch einmal an das Bett und sagte: „Die Mutter sah gut aus; woher kam sie?“
„Sie wurde gestern Abend gebracht,“ erwiderte die Wärterin, „auf Befehl des Directors. Man hatte sie auf der Strasse liegen gefunden, und sie muss ziemlich weit hergewandert sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen; aber woher sie kam, oder wohin sie wollte, das weiss Niemand.“
Der Wundarzt beugte sich über die Verblichene, hob die linke Hand derselben empor und bemerkte kopfschüttelnd: „Die alte Geschichte; ich sehe, kein Trauring. Hm! gute Nacht!“
Er ging zu seinem Abendessen, und die Wärterin fing an das Kind anzukleiden. Bis zu diesem Augenblick hätte man nicht sagen können, ob es das Kind eines Edelmanns oder eines Bettlers sei; das dürftige, verwaschene Kinderzeug des Armenhauses bezeichnete indess sogleich seine gegenwärtige und zukünftige Stellung in der Welt, sein ganzes Schicksal, als Kirchspielkind — Waise des Armenhauses, halb verhungert und unter Mühe und Plackerei, verachtet von Allen, bemitleidet von Niemand, durch die Welt geknufft und gestossen zu werden.
Zweites Kapitel.
Oliver Twist’s erste Kindheit.
Oliver Twist wurde die ersten zehn Monate „aufgefüttert“, und sodann in ein drei Meilen entferntes Filialarmenhaus versetzt, wo zwanzig bis dreissig andere kleine Uebertreter der Armengesetze unter der mütterlichen Aufsicht einer ältlichen Frau, welche für jeden derselben wöchentlich sieben und einen halben Penny erhielt, aufwuchsen, ohne zu gut genährt oder zu warm gekleidet und verzärtelt zu werden. Mit sieben und einem halben Penny lässt sich viel beschaffen, und die Matrone war klug und erfahren. Sie wusste, wie leicht sich Kinder den Magen überladen können und was ihnen dient, eben so genau aber auch, was ihr selbst gut war; sie verwendete daher einen beträchtlichen Theil des für die Kinder Bestimmten in ihrem eigenen Nutzen, fand demnach in der tiefsten noch eine tiefere Tiefe, und bewies somit, dass sie es in der Experimentalphilosophie wirklich weit gebracht.
Jedermann kennt die Geschichte eines anderen Experimentalphilosophen, nach dessen ruhmwürdiger Theorie ein Pferd im Stande war, ohne Nahrung zu leben, und der jene so vortrefflich demonstrirte, dass er sein eigenes Pferd bis auf einen Strohhalm den Tag herunterbrachte, und ohne Frage ein äusserst muthiges, kräftiges und gar nicht fressendes Thier aus ihm gemacht haben würde, wenn es nicht vierundzwanzig Stunden vor seinem ersten comfortablen vollkommenen Hungertage gestorben wäre. Die mehrerwähnte Matrone wendete dasselbe System nicht selten mit gleichem Unglücke auf die Kirchspielkinder an, deren nicht wenige vor Kälte oder Hunger, oder weil sie einen Fall gethan oder sich verbrannt hatten, starben und zu ihren Vätern in jener Welt, die sie in dieser nicht gekannt, versammelt wurden, wenn sie sie eben mit vieler Mühe so weit gebracht hatte, dass sie von der möglichst geringen Quantität möglichst schwacher Nahrungsmittel leben konnten.
Stellten die Directoren unangenehme Untersuchungen an, oder thaten die Geschworenen lästige Fragen, so schützten dagegen das Zeugniss und die Aussage des Wundarztes und Kirchspieldieners. Der Erstere hatte stets die Leichen geöffnet, und nichts darin gefunden (was sehr natürlich zuging), und der Letztere beschwor stets, was dem Kirchspiel angenehm war, und gab damit einen grossen Beweis von Selbstaufopferung und Hingebung. Das Armencollegium besuchte von Zeit zu Zeit die Filialanstalt, und schickte Tags zuvor den Kirchspieldiener, um seine Ankunft zu verkünden. Und dann sahen die Kinder stets gut und reinlich aus, und was konnte man mehr verlangen?
Oliver Twist war an seinem achten Geburtstage ein blasses, schwach aussehendes, nicht gross zu nennendes Kind, gewiss aber von sehr geringem Umfange; doch wohnte in ihm ein gesunder, kräftiger Geist, der auch, Dank der strengen Diät des Hauses, hinreichenden Raum hatte, sich auszudehnen. Oliver feierte seinen Geburtstag im Kohlenkeller, welcher ihm nach einer tüchtigen Tracht Schläge angewiesen worden war, weil er sich erkühnt hätte, hungrig zu sein, als Frau Mann, die gutherzige Pflegerin, durch die Erscheinung Mr. Bumble’s, des Kirchspieldieners, der dem Gartenpförtchen zuschritt, in Schrecken gesetzt wurde.
„Du meine Güte, sind Sie das, Mr. Bumble?“ rief sie ihm aus dem Fenster, anscheinend hoch erfreut, entgegen. — „Susanne, bring’ gleich den Oliver und die andern beiden Buben herauf und wasch’ sie. Ach, Mr. Bumble, wie lange haben Sie sich nicht sehen lassen!“
Mr. Bumble zürnte aber gewaltig, dass er auf das Oeffnen der Hausthür warten müsse, er, der Kirchspielbeamte, und indem er in Kirchspielwaisenangelegenheiten erscheine; allein Frau Mann wusste ihn durch viele milde Worte und ein starkes Getränk zu besänftigen, das er nach mancher Weigerung endlich anzunehmen sich herabliess. Er ging darauf zu den Geschäften über.
„Ist nicht der Knabe Oliver Twist heute acht Jahre alt, Frau Mann?“
„Des Himmels Segen über das liebe Herzchen!“ rief