Charles Dickens

Oliver Twist


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der übernatürlichen Anstrengungen des Kirchspiels, sind wir nicht im Stande gewesen, seinen Vater ausfindig zu machen, oder seiner Mutter Wohnung, Namen oder Stand in Erfahrung zu bringen.“

      „Wie geht es denn aber zu, dass er einen Namen hat?“ fragte die Waisenmutter.

      Der Kirchspieldiener warf sich in die Brust und erwiderte: „Ich erfand ihn.“

      „Sie, Mr. Bumble!“

      „Ich, Frau Mann. Wir benennen unsere Findlinge nach dem Alphabet. Der letzte war ein S, — Swubble: ich benannte ihn. Dieser war ein T, — Twist: ich gab ihm abermals den Namen. Ich habe Namen im Vorrath von A bis Z; und wenn ich beim Z angekommen bin, fang’ ich beim A wieder an.“

      „Sie sind wirklich ein Gelehrter, Mr. Bumble!“

      „Mag sein, mag sein, Frau Mann. Doch genug davon. Oliver ist jetzt zu alt geworden zum Hierbleiben, das Collegium hat beschlossen, ihn zurückzunehmen, ich bin selbst gekommen, ihn abzuholen; — wo ist er?“

      Frau Mann eilte hinaus, und erschien gleich darauf mit Oliver wieder, der unterdess gewaschen und bestens gekleidet war.

      „Mach ’nen Diener vor dem Herrn, Oliver,“ sagte sie.

      Oliver verbeugte sich tief vor dem Kirchspieldiener auf dem Stuhle und dem dreieckigen Hute auf dem Tische.

      „Willst du mit mir gehen, Oliver?“ redete ihn Mr. Bumble in feierlichem Tone an.

      Oliver war im Begriff, zu antworten, dass er auf das Bereitwilligste mit Jedermann fortgehen würde, hob aber zufällig die Augen zu Frau Mann empor, die hinter des Kirchspieldieners Stuhl getreten war und mit grimmigen Mienen die Faust schüttelte. Er wusste nur zu gut, was das bedeutete.

      „Geht sie auch mit?“ fragte er.

      „Das kann nicht sein; sie wird aber bisweilen kommen und dich besuchen,“ erwiderte Bumble.

      Das war kein grosser Trost für Oliver; allein er hatte trotz seiner Jugend Verstand genug, sich anzustellen, als verliesse er das Haus nur sehr ungern; ohnehin standen ihm die Thränen in Folge des Hungers und kaum noch erfahrener harter Züchtigung nahe genug. Frau Mann umarmte ihn wiederholt, und gab ihm, was er am meisten bedurfte, ein grosses Stück Butterbrod, damit er im Armenhause nicht zu hungrig anlangte. Die Sache war natürlich abgemacht. Sein Butterbrod in der Hand, verliess er die Stätte, wo kein Strahl eines freundlichen Blickes das Dunkel seiner ersten Kinderjahre erhellt hatte. Und doch brach er in Thränen kindlichen Schmerzes aus, als das Gartenthor sich hinter ihm schloss. Verliess er doch seine Leidensgefährten, die einzigen Freunde, die er in seinem Leben gekannt hatte; und zum ersten Male, seit dem Erwachen seines Bewusstseins, empfand er ein Gefühl seiner Verlassenheit in der grossen weiten Welt.

      Angelangt im Armenhause, führte ihn Bumble in ein grosses Zimmer mit weiss übertünchten Wänden, wo (denn es war Sitzungstag) acht bis zehn wohlbeleibte Herren an einem Tische sassen. Ein besonders dicker Herr mit einem runden, rothen Gesicht präsidirte, und begann das Verhör.

      „Wie heisst du, Knabe?“

      Oliver bebte, denn der Anblick so vieler Herren brachte ihn gänzlich ausser Fassung; Bumble suchte ihn durch eine kräftige Berührung mit dem Kirchspieldienerstabe zu beleben, und er fing an zu weinen. Er antwortete daher leise und zögernd, worauf ihm ein Herr in weisser Weste zurief, ei wäre ein dummer Junge, was ein vortreffliches Mittel war, ihm Muth einzuflössen.

      „Knabe,“ sagte der Präsident, „hör’, was ich dir sage. Du weisst doch, dass du eine Waise bist?“

      „Was ist denn das, Sir?“ fragte der unglückliche Oliver.

      „Er ist in der That ein dummer Junge — ich sah es gleich,“ sagte der Herr mit der weissen Weste sehr bestimmt.

      „Du wirst doch wissen,“ nahm der Herr wieder das Wort, der zuerst gesprochen hatte, „dass du weder Vater noch Mutter hast, und vom Kirchspiel erzogen bist?“

      „Ja, Sir,“ antwortete Oliver, bitterlich weinend.

      „Was heulst du?“ fragte der Herr mit der weissen Weste; und es war in der That höchst auffallend, dass Oliver weinte.“

      „Ich hoffe doch, dass du jeden Abend dein Gebet hersagst,“ fiel ein anderer Herr in barschem Tone ein, „und für Diejenigen betest, die dir zu essen geben und für dich sorgen?“

      „Ja, Sir,“ stotterte Oliver.

      „Wir haben dich hierher bringen lassen,“ sagte der Präsident, „damit du ein nützliches Geschäft lernen sollst. Du wirst also morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen.“

      Oliver wurde hierauf wieder hinausgeführt, und schluchzte so lange, bis er einschlief. Zum Glück für ihn hatte das Collegium der Armenpfleger vor einiger Zeit die Entdeckung gemacht, dass das Armenhaus von nur zu vielen Arbeits- und Erwerbsfähigen, aber Faulen, als eine Art Paradies betrachtet und gesucht werde, und daher Anordnungen getroffen, dem Zudrange entgegen zu wirken. Es fand kein Luxus in der Speisung oder sonst mehr statt. Eheleute wurden von einander, Eltern von ihren Kindern getrennt, und so fort.

      Das Gemach, in welchem die Knaben gespeist wurden, war eine Art Küche, und der Speisemeister theilte ihnen aus einem kupfernen Kessel am unteren Ende ihre Haferbreiportionen zu, einen Napf voll und nicht mehr, ausgenommen an Sonn- und Feiertagen, wo sie auch noch ein nicht eben zu grosses Stück Brod bekamen. Die Näpfe brauchten nicht gewaschen zu werden, denn sie wurden mit den Löffeln der Knaben so lange polirt, bis sie wieder vollkommen blank waren; und auch an den Löffeln und Fingern blieben Speisereste niemals hängen. Kinder pflegen eine vortreffliche Esslust zu besitzen. Oliver und seine Kameraden hatten drei Monate die Hungerdiät ausgehalten, vermochten sie nun aber nicht länger mehr zu ertragen. Ein für sein Alter sehr grosser Knabe, dessen Vater ein Garkoch gewesen, erklärte den Uebrigen, dass er, wenn er nicht täglich zwei Näpfe Haferbrei bekomme, fürchten müsse, über kurz oder lang seinen Bettkameraden, einen kleinen, schwächlichen Knaben, aufzuessen. Seine Augen waren verstört und rollten wild. Die halbverhungerte Schaar glaubte ihm, hielt einen Rath, looste darum, wer nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und um mehr bitten solle, und das Loos traf Oliver Twist.

      Der Abend kam, der Speisemeister stellte sich an den Kessel, der Haferbrei wurde ausgefüllt und ein breites Gebet über der schmalen Kost gesprochen. Die letztere war verschwunden, die Knaben flüsterten unter einander, winkten Oliver, und die zunächst Sitzenden stiessen ihn an. Der Hunger liess ihn alle Bedenklichkeiten und Rücksichten vergessen. Er stand auf, trat mit Napf und Löffel vor den Speisemeister hin, und sagte, freilich mit ziemlichem Beben: „Bitt’ um Vergebung, Sir, ich möchte noch ein wenig.“

      Der wohlgenährte, rothwangige Speisemeister erblasste, starrte den kleinen Rebellen wie betäubt vor Erstaunen an, und musste sich am Kessel festhalten. Oliver wiederholte unter Furcht und Zittern seine Worte, und nunmehr ermannte sich der Speisemeister, schlug ihn mit dem Löffel, auf den Kopf und rief laut nach dem Kirchspieldiener.

      Das Armencollegium war eben versammelt, und Bumble stattete in grosser Aufregung seinen Bericht ab: Oliver Twist habe mehr gefordert. — Das Collegium wär empört.

      „Hören wir recht — nachdem er gehabt, was zum Abendbrod festgesetzt ist?“ fragte Mr. Limbkins.

      Bumble bejahete.

      „Denken Sie an mich, Gentlemen,“ sagte der Herr mit der weissen Weste, „der Knabe wird dereinst gehangen werden.“

      Die Herren hielten feierlichen Rath, und das Resultat bestand darin, dass Oliver eingesperrt, und durch öffentlichen Anschlag die Summe von fünf Pfunden Demjenigen, der Oliver Twist zu sich nehmen möchte, gelobt wurde, oder mit anderen Worten, man bot Oliver Twist um fünf Pfund aus an Jedermann, der eines Lehrlings oder Laufburschen bedürfte, gleichviel wo, oder in welchem Handwerke oder Geschäfte.

      Drittes Kapitel.

      Wie Oliver Twist nahe daran war, eine Anstellung zu bekommen, welche keine Sinecure gewesen sein würde.

      Wenn es Oliver darum zu thun