„ich habe niemals gesehen ein anstelligeres Kind. Da hast du ’nen Schilling. Fährst du so fort, so wirst du werden der grösste Mann deiner Zeit. Doch will ich dir jetzt zeigen, wie man herauslöst die Buchstaben.“
Oliver konnte gar nicht begreifen, wie er ein grosser Mann dadurch werden könne, dass er dem alten Herrn das Tuch aus der Tasche zöge, meinte jedoch, dass es der so viel Aeltere besser wissen müsse, als er, und war bald eifrig mit seinen neuen Studien beschäftigt.
Zehntes Kapitel.
Oliver gewinnt Erfahrung um einen hohen Preis.
Oliver blieb acht bis zehn Tage im Zimmer des Juden, wurde fortwährend beschäftigt, Zeichen aus Taschentüchern herauszulösen, und nahm bisweilen an dem beschriebenen Spiele Theil, das täglich gespielt wurde. Er fing immer mehr an, sich nach frischer Luft zu sehnen, und bat den alten Herrn mehrmals auf das Dringendste, ihn mit seinen beiden Kameraden zum Arbeiten ausgehen zu lassen.
Endlich wurde ihm eines Morgens die Erlaubniss ertheilt, unter Jack’s und Charley’s Aufsicht auszugehen. Sie gingen, und geriethen sogleich in ein sehr faulenzerisches Schlendern, was Oliver höchst missbilligte, eingedenk der vielfachen Warnungen des alten Herrn vor dem verderblichen Müssiggange. Der Baldoberer verübte mannichfachen Muthwillen an Knaben, und Charley erlaubte sich sogar, die Heiligkeit des Eigenthums zu verletzen, wenn er an einem Apfel- oder Zwiebelkorbe vorüber kam. Oliver war daher schon im Begriff, unwillig heimzukehren, als seine Begleiter auf einmal anfingen, sich äusserst geheimnissvoll zu benehmen, wodurch er von seinem Vorhaben abgelenkt wurde.
Sie umschlichen einen alten Herrn, auf den sie ihn aufmerksam gemacht hatten, ohne seine Fragen anders als durch einige ihm unverständliche Worte und Winke zu beantworten. Er hielt sich einige Schritte hinter ihnen, und stand endlich, unschlüssig, ob er weitergehen oder sich zurückziehen solle, verwundert zuschauend da.
Der alte Herr sah sehr respectabel aus, trug Puder in den Haaren und eine goldene Brille. Er hatte sich vor einen Bücherladen hingestellt, ein Buch zur Hand genommen, las darin, sein spanisches Rohr unter dem linken Arme, und hörte und sah offenbar nicht, was um ihn her vorging.
Wer beschreibt Oliver’s Bestürzung, als der Baldoberer dem alten Herrn das Tuch aus der Tasche zog, es Charley Bates reichte, und als darauf Beide spornstreichs davon liefen! Im Augenblick war ihm das Geheimniss der Taschentücher, Uhren und Kleinodien klar. Das Blut stockte ihm in den Adern, ihm schwindelte vor Furcht und Schrecken, und ohne zu wissen, was er that, lief er seinen Kameraden nach, so schnell seine Füsse ihn tragen mochten. In demselben Augenblicke griff der alte Herr nach seinem Tuche in die Tasche, vermisste es, drehete sich rasch um, sah Oliver laufen, und erhob den Ruf: „Halt’ den Dieb!“ — den magischen Ruf, auf welchen sofort Alles lebendig wird, der Krämer aus seinem Laden auf die Strasse stürzt, der Gemüsehändler seinen Korb, der Milchmann seinen Eimer, der Pflasterer seine Bicke, der Schulknabe seine Bücher stehen lässt, zur Seite setzt, wegwirst und nachläuft.
Jack und Charley hatten Aufsehen zu vermeiden gewünscht, und waren daher nur bis um die nächste Ecke gelaufen, worauf sie sich unter einem Thorwege neugierigen Blicken zu entziehen suchten. Sobald sie das Geschrei „Halt’ den Dieb!“ vernahmen, stimmten sie aus allen Kräften ein, und schlossen sich wie gute Bürger den Verfolgern an. Diese Anwendung des grossen Naturgesetzes der Selbsterhaltung war Oliver vollkommen neu. Er wurde noch mehr verwirrt und bestürzt, und verdoppelte seine Eile, sah sich indess nach einiger Zeit eingeholt und wurde obenein zu Boden geschlagen.
In wenigen Augenblicken war ein zahlreicher Haufen um ihn versammelt. „Drückt ihn doch nicht todt!“ — „Verdient er’s besser?“ — „Wo ist der bestohlene Herr?“ — „Da kommt er schon; macht Raum für den Herrn!“ — „Ist dies der Bursch, Sir?“ — „Ja!“
Oliver lag da, mit Schmutz bedeckt, blutend aus Nase und Mund, und starrte betäubt und geängstet umher.
„Ich fürchte, dass es der Knabe ist,“ sagte der Herr sehr milde.
„Das fürchten Sie?“ wurde gemurrt. „Der ist auch wol der Rechte.“
„Der arme Kleine hat sich beschädigt,“ fuhr der Herr fort.
„Das hab’ ich gethan,“ fiel ein vierschrötiger Mensch hervortretend ein; „traf ihn gerade mit der Faust auf die Schnauze — ich hab’ ihn aufgehalten für Sie, Sir.“
Er zog greinend den Hut, eine Belohnung seiner Dienstfertigkeit erwartend; allein der alte Herr blickte ihn unwillig an, und hätte sich offenbar gern entfernt, als sich ein Polizeidiener hindurchdrängte, Oliver beim Kragen fasste und, trotz der mitleidigen Verwendung des alten Herrn, vom Strassenpflaster emporriss und sehr unsanft schüttelte.
„Thun Sie ihm nichts zu Leide,“ sagte der menschenfreundliche Herr, und folgte wohl oder übel dem Polizeidiener, der Oliver unter lautem Hussa des Haufens fortzog.
Elftes Kapitel.
Wie Mr. Fang die Gerechtigkeit handhabte.
Der Diebstahl war im Bezirke eines sehr bekannten Polizeiamtes begangen. Angelangt, wurde Oliver vorläufig in ein kellerartiges Gemach eingeschlossen, das über alle Beschreibung schmutzig war, denn sechs Betrunkene hatten es fast drei Tage inne gehabt. Doch das will nichts sagen. Sperrt man doch Tag für Tag und Nacht für Nacht Männer und Weiber um der geringfügigsten, leichtfertigsten Anschuldigungen willen in Spelunken ein, gegen welche die Zellen der schwersten und bereits verurtheilten Verbrecher im Newgategefängnisse für Prunkgemächer gelten könnten!
Der alte Herr sah Oliver mitleidig und wehmüthig nach.
„Es liegt ein Ausdruck in den Zügen des Knaben, der mich ja ganz wunderbar ergreift,“ sprach er bei sich selbst. „Sollte er nicht unschuldig sein? Er sah aus, als wenn er — hm! — ist mir’s doch in der That, als wenn ich dieses Gesicht oder ein ganz ähnliches schon gesehen hätte.“
Er sann und sann, rief sich die Züge seiner Freunde, Feinde und Bekannten, alter und neuer, längst vergessener, längst im Grabe ruhender vor die Seele, vermochte sich aber dennoch keines zu entsinnen, mit welchem Oliver Aehnlichkeit gehabt hätte. „Nein, es muss Einbildung sein,“ sagte er endlich seufzend und kopfschüttelnd.
Er wurde gerufen. Oliver sass schon da, Mr. Fang, der Polizeirichter, war in die Lectüre eines Zeitungsblattes vertieft. Mr. Fang’s Antlitz hatte den Ausdruck der Härte, und war sehr roth. Wenn er nicht mehr zu trinken pflegte, als ihm gut war, so hätte er gegen sein Gesicht eine Injurienklage anstellen können, und sicher würden ihm beträchtliche Entschädigungsgelder zuerkannt worden sein.
Der alte Herr verbeugte sich ehrerbietig.
„Hier ist mein Name und meine Adresse, Sir,“ sagte er, und reichte Mr. Fang seine Karte.
Mr. Fang war übler Laune und blickte verdriesslich auf.
„Wer sind Sie?“
Der alte Herr wies ein wenig erstaunt auf seine Karte.
Mr. Fang stiess sein Zeitungsblatt nebst der Karte verächtlich zur Seite.
„Gerichtsdiener! wer ist dieser Mensch?“
„Sir, ich heisse Brownlow,“ fiel der alte Herr mit dem Anstande eines Gentleman, und also in starkem Contrast zu Mr. Fang ein. „Erlauben Sie, dass sich um den Namen des Richters bitte, der einen anständigen Mann ohne alle Veranlassung im Gerichtslocale beleidigt.“
„Gerichtsdiener!“ herrschte Fang; „wessen ist dieser Mensch angeklagt?“
„Er ist nicht angeklagt, Ihr Edeln, sondern erscheint als Kläger des Knaben.“
Seine Edeln wussten das sehr wohl, konnten jedoch auf die Weise ganz sicher unangenehme Dinge sagen.
„Erscheint als Ankläger des Knaben — so!“ sagte Fang, Brownlow verächtlich von Kopf bis zu Füssen betrachtend. „Nehmen Sie ihm den Eid ab.“
„Bevor das geschieht, muss ich mir ein paar Worte erlauben,“ fiel Brownlow ein. „Ich