Paul Keller

Die Heimat


Скачать книгу

ist wieder ganz krank. Am Mittwoch, wie Wochenmarkt in Waldenburg war, war sie mit beim Doktor.“

      „Und was hat der gesagt?“

      „Das weiss ich nicht. Sie hat geweint, als sie heimkam. Das ist es auch, was mir immer so bange macht, dass die Mutter nicht gesund ist.“

      Sie gingen eine Weile schweigend weiter.

      „Sieh nur, dass du weiter auf der Schule fortkommst, Heinrich! Gelt, bis in die Prima musst du, eh’ du den Einjährigen hast?“

      „Bloss bis Obersekunda!“

      „Das wär’n also reichlich noch drei Jahre. Sieh och, Heinrich, ’s is schon gutt, wenn du was lernst. Auf alle Fälle is gutt. ’s is ja ganz erbärmlich, wenn einer so tumm is wie zum Beispiel ich. Kannste denn eine Stellung kriegen, wenn du einjährig bist, Heinrich?“

      „O ja, es war einer mit auf unserer Bude, der ist nach ’m Einjährigen abgegangen, und jetzt ist er Schreiber auf einem Landratsamte, und dann wird er Kreissekretär oder so ähnlich. Aber ich mag nicht Kreissekretär werden. Ich will Bauer werden.“

      „Schon, schon, Heinrich! Aber sieh mal, am Ende könnt’st du dich doch später anders besinnen.“

      „Nie, Mathias, nie! Ich übernehm’ das Gut. Das ist tausendmal besser, als wenn ich so in einer Schreibstube sitzen muss.“

      Ein Blick des Lumpenmannes glitt über die goldenen Fluren, die sich rechts und links von ihm ausdehnten und die alle jetzt noch den Raschdorfs gehörten.

      „Wir werden schon sehen, dass du ein Bauer werden kannst. Wir werden schon sehen!“ sagte er. – –

      Hannes hielt mit der Hundefuhre mitten auf dem Wege an. Aus einem Feldraine bog ein Trupp Schnitter ein, und an ihrer Spitze schritt schwer und gewichtig August Reichel, der Vater des Hannes.

      „Na, da komm mal schnell, Heinrich, sonst passiert da unten ein Unglück!“ sagte der Lumpenmann und schritt mit seinem Begleiter rüstig aus.

      Sie kamen ziemlich gleichzeitig mit den Schnittern an den Wagen an. August Reichel, ein Riese von Gestalt, blieb stehen und betrachtete höchst beängstigenden Blikkes seinen Sprössling, der da beklommen vor ihm stand und mit der einen Hand krampfhaft hinter dem Rücken etwas versteckte. Der Riese reckte ein wenig den Hals und konnte so ganz bequem auch aus einiger Entfernung die Rückseite seines Nachkömmlings einer genauen Musterung unterziehen. Ein Zucken ging über das Gesicht des Goliath.

      „Her!“ sagte er lakonisch und streckte die Hand aus.

      Hannes reichte ihm die ruinierte „Trauertonne“ und schielte halb ängstlich, halb abwartend durch die Haare, die ihm in die Stirn hingen, zu seinem muskulösen Vater hinauf.

      Der betrachtete den Zylinder, nahm den Strohhut vom Kopfe, probierte den Zylinder auf, fand, dass er ihm passe, prüfte dann das Schweissleder und hieb plötzlich dem Knirps vor ihm den Hut mit solcher Wucht auf den Kopf, dass dieser bis übers Kinn darin versank und mit beiden Beinen zugleich auf der Strasse kniete.

      „August, halb und halb bin ich schuld“, sagte der Lumpenmann beschwichtigend, „ich hab’ zwei Zylinderhüte zu Hause; ich schick dir einen.“

      Über das breite Gesicht des Riesen ging ein Lächeln.

      „Ich brauch’ keinen!“ sagte er und nickte dem Lumpenmann freundlich zu. Darauf setzte er sich wieder an die Spitze seiner Schnitterschar und schritt in breitbeiniger Majestät die Anhöhe hinauf dem Buchenhofe zu.

      Hannes arbeitete sich ans Tageslicht. Er sah seinem Vater halb ärgerlich, halb schadenfroh nach und sagte, indem er sich die Stirn rieb und dem Vater mit dem Finger nachdrohte: „Na wart nur! Wenn ich heute abend Kopfschmerzen hab’, da wirste mir ja Tee kochen müssen!“

      Mathias Berger lachte, Pluto bellte einen kleinen Jubelhymnus, Hannes fasste ihn um den Hals, und die kleine Karawane zog weiter.

      So kamen sie bei dem kleinen Hause des Lumpenmannes an. Die Liese kam ihnen entgegen. Eine ganze Woche lang hatte sie den Vater wieder nicht gesehen. Nun schmiegte sie sich zärtlich an ihn. Er aber schlang den Arm um sie und fuhr mit der Hand über ihren flachsblonden Kopf.

      „Liese! Nu, Liese! Nu, mei Madel du!“

      Ein ganzer Strom von Liebe ging durch diese paar Worte. Dann kam auch die Schwester Bergers, die ihm seit dem frühen Tode seiner Frau die Hauswirtschaft besorgte. Unterdessen spannten die Knaben den Hund aus und schoben den Wagen in einen kleinen Schuppen. Mathias Berger folgte ihnen. Er hob einen riesigen Sack aus dem Wagen, der prall mit Lumpen gefüllt war, und schüttelte ihn aus.

      „Na, da seht mal! Wenn ich die sortieren werd’, das ist ganz int’ressant. Da ist alles dabei. Wollflecke von Grossmutterkleidern und Kattun von Kinderschürzen, Übrigbleibsel vom Brautstaate und Leinwand von einem Totenhemde. A Lumpenmann kann alles sehen. Es kommt von allem was in seinen Sack.“

      Heinrich folgte gedankenvoll diesen Worten; aber Hannes hörte nicht darauf und machte sich mit einem kleinen Holzkasten zu schaffen.

      In der Stube wurde dieses Schatzkästlein geöffnet. Ein Kinderherz konnte bei solchem Anblick selig sein. Es gab ja auch einige langweilige Dinge in dem Kasten, wie: Fingerhüte, Nähnadeln, Zwirn, Jerusalemer Balsam und Federhalter. Aber sonst? Soldatenbilder, allerhand andere Bilder mit schönen Versen von Gustav Kühn aus Neuruppin, Peitschenschnüre, Pfeifen, Kreisel, Spielmarken, Papierorden, kleine Pistolen, Vogelpfeifen, „goldene und silberne“ Uhren und Fingerringe die schwere Masse mit den prachtvollsten Steinen.

      „Ich möchte gerne a Fingerringel für die Raschdorf-Lene“, sagte Hannes, „weil die mir ofte manchmal a Stückel Wurstschnitte gibt.“

      „Such dir einen aus, Hannes“, sagte der Lumpenmann.

      Der Knabe wühlte mit zitternden Fingern in den Schätzen.

      So mag den Märchenprinzen zumute gewesen sein, die nach dem Wunderring suchten.

      Heinrich stand etwas abseits. Er hielt es wohl mit seiner Gymnasiastenwürde unvereinbar, sich noch für solche Dinge zu interessieren, aber er wandte doch kein Auge von dem Kasten. Schliesslich trat er mit gewaltsam erzwungener Gleichgültigkeit näher.

      „Was ist denn da eigentlich alles?“ fragte er mit ungeheurem Gleichmut.

      „Wenn dir was gefällt, Heinrich, such’ dir nur aus“, sagte Berger freundlich.

      Heinrich tat so, als ob er das durchaus nicht beabsichtige; aber schliesslich prüfte er doch eine kleine Zündblattpistole und liess sich durch einiges Zureden Bergers bewegen, sie nebst einer Schachtel Munition zu behalten. Auch einen silbernen Ordensstern nahm er noch an sich. Dann aber fühlte er das Bedürfnis, wieder ernsthafter aufzutreten.

      „Wissen Sie, Mathias, wer die Lumpenmänner eigentlich in Schlesien eingeführt hat?“

      „Nein“, sagte Mathias, „das weiss ich nicht.“

      „Das hat der Alte Fritz getan“, belehrte ihn Heinrich.

      „Vor der Zeit des Alten Fritz gab’s keine Lumpenmänner in Schlesien.“

      „Da hat der Alte Fritz was sehr Kluges gemacht“, entgegnete Berger.

      „Is überhaupt sehr tüchtig gewesen“, sagte Hannes wohlwollend, um damit zu zeigen, dass er auch in der Geschichte bewandert sei. Dabei stellte er drei Ringe in die engere Wahl: einen Diamantring, einen Rubinring und einen einfachen Silberreif, auf dem das Wort „Liebe“ eingeprägt war.

      „Ja“, nahm Heinrich wieder das Wort, „der Alte Fritz war sehr sparsam, und er wollte nicht, dass die Leute was wegwarfen: Lumpen, Knochen, altes Eisen und so ähnlich. Da setzte er die Lumpenmänner im Lande ein. Und die mussten solche Dinge im Kasten haben wie Sie, Mathias. Und das nennt man Tauschhandel. Wobei es auch auf die neuen Papierfabriken ankam.“

      Bergers Augen leuchteten. „Sieh mal, Heinrich, das is doch hübsch, wenn einer das alles weiss. Ich bin nu schon