Heike Vullriede

EMOTION CACHING


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machte er stets um dieselbe Zeit Mittagspause, hetzte zwischen Arbeitsplatz und Wohnung hin und her, was wiederum Kims schul- und arbeitsloser Zeitplanung entgegenkam. Er erhielt sozusagen eine komische Hauptrolle in einem ständig zu wiederholenden Film, während sich seine Wut über ihre menschliche Verfehlung im Straßenverkehr von Mal zu Mal steigerte. Nicht, dass sie ihn nicht gemocht hätte. Im Gegenteil. Je häufiger er seine Schimpfkanonaden auf sie einregnen ließ, desto mehr freute sie sich auf das nächste Treffen mit ihm. Als die anderen aus der Clique auch mal ihren Spaß mit ihm haben wollten, protestierte Kim gewaltig. Haifisch gehörte ihr allein.

      12.37 Uhr – Er war heute spät dran! Doch dann tauchte in einiger Entfernung das vertraute Gesicht seines silbernen Golfs auf. Da war er ja – ihr aufgeregter Freund. Die Spaßeinlage schien gesichert. Nico, der neben ihr Ausschau an der Ampel hielt, biss sich erwartungsfroh auf die Lippen.

      Haifisch verteilte sein Hupkonzert bereits, als Kim gerade erst einen Fuß auf die Kreuzung gesetzt hatte. Es beeindruckte sie ebenso wenig, wie die rote Ampel, doch das schien ihm wieder einmal zu entgehen. Heute ganz besonders. Der Blick durch seine Windschutzscheibe belohnte sie: Auch wenn man nicht jedes Detail seines Gesichts erkennen konnte, sah sie, wie aus dem Mann hinter dem Steuer so etwas wie ein rasender Stier wurde. Er trommelte mit einer Faust permanent auf die Hupe. Als sie ihn so sah, fragte sie sich, ob er sich diese Hupe als Ersatz für ihren Brustkorb vorstellte? Genau so hätte er wohl auf sie eingeschlagen, wenn er es gekonnt hätte. Ob sich das mit dem Fischaufkleber auf der Fahrertür vertrug? Sie blickte sich kurz um. Die anderen Autofahrer und die umstehenden Passanten schüttelten verwundert die Köpfe. Nicht Kim war das Objekt ihrer Verwunderung, sondern der trommelnde und hupende Kerl hinter dem Steuer. Wie viel Wut musste in ihm stecken, dass er sich so etwas antat?

      Sie beobachtete die Bewegungen auf dem Fahrersitz fasziniert, während der Golf auf sie zukam. Anscheinend weigerte er sich heute nachzugeben, und er stoppte sein Auto nur in Etappen – wohl, weil er glaubte, Kim würde es doch noch als Warnung ansehen und zurück auf den Gehweg springen. Doch da kannte er sie schlecht. Kim wäre niemals zurückgesprungen – auf ihre Ehre nicht, vor all den Passanten nicht, vor ihren Freunden nicht! Sie spielten das Schisshasen-Spiel, in dem er aus rechtlichen und ethischen Gründen zum Verlierer verdammt war. Er hatte keine Chance. Das musste er eigentlich wissen, denn das war selbst Kim klar. Heute aber fiel ihm seine Rolle besonders schwer. Fast tat er ihr leid.

      Der Wagen kam näher. Für einen Moment misstraute sie ihm. Er würde doch bremsen? Das musste er …

      Keinen halben Meter vor ihren Kniescheiben stand er dann doch.

      Hinter der Windschutzscheibe starrte sie ein kreidebleiches und verzerrtes Gesicht an. Sie streckte ihm, wie aus einem automatisch startenden Programm heraus, den schwarz lackierten Mittelfinger ihrer Rechten entgegen.

      Zu ihrer Überraschung tat er nun das, was Nico vorausgesagt hatte: Er stieg aus. Tatsächlich. Mitten auf der Kreuzung.

      Der Haifisch zeigte Zähne! Das konnte interessant werden.

      Nun sah sie ihn zum ersten Mal außerhalb seines Wagens. Er war genau so groß, wie sie sich ihn vorgestellt hatte. Kein Riese und garantiert keine Sportskanone. Der Ansatz an seinem Bauch war überdeutlich. Die Krawatte hing schief und schlaff von seinem Hals. Sein Gesicht schien vor Wut rot glühend zu pulsieren.

      Gespannt blieb sie an Ort und Stelle und wartete.

      Er hielt sich mit einer Hand an der Fahrertür fest, als wollte er nicht in Versuchung geraten, Kim sofort anzufallen, und schlug mit der anderen gegen seine Stirn. »Wie bescheuert kann man eigentlich sein?!«

      Auf der anderen Straßenseite grinsten ihr Benni und Lena entgegen. Benni hielt angestrengt seine Hände in die Höhe.

      Kim wusste, seiner Handykamera entging nichts. Ein Filmchen mehr auf ihrer Liste. Leider würde es keine besonders guten Nahaufnahmen von Haifisch geben.

      »Immer locker bleiben, Alter«, sagte sie betont lässig und freute sich über den Farbwechsel auf dem Gesicht ihres Gegenübers ins Violette.

      Aus seinen Augen blitzte pure Aggression. Angestauter Hass aus den letzten Wochen schien ihm regelrecht aus dem viel zu engen Kragen zu platzen. Vielleicht war dies heute nicht das erste Ereignis, das ihm nicht in den Kram passte, sonst hätte er sich wohl nicht die Mühe gemacht, extra auszusteigen. Kim spekulierte. Vielleicht hatte er eben noch Ärger mit seinem Chef gehabt oder mit seiner Freundin, Frau, oder wem auch immer. Möglicherweise lief das bis zum Rand gefüllte Fass in seinem Leben gerade über. Oder er litt an der gleichen Basiswut, wie sie auch, und das hier gab ihm jetzt den Rest.

      Auf den ersten Blick wirkte er äußerlich ganz unauffällig: so Mitte dreißig, schwarze Hose, weißes Hemd, Jackett – ziemlich spießig, Banker vielleicht oder Langzeit-BWL-Student. Im Grunde aber nicht der Typ, dem man zutraute, seine Zeit auf Anti-Aggressions-Lehrgängen zubringen zu müssen. Seine Frisur hatte er heute gestylt, die paar kurzen Haarspitzen an der lichten Stirn ein bisschen nach oben gegelt – in einem Anflug von Waghalsigkeit vermutlich.

      »Wenn ich dich angefahren hätte, würdest du jetzt weniger cool rüberkommen, du blöde Ziege!« Er wandte sich den hupenden Fahrzeugen hinter ihm zu und schrie die Blechkarossen an: »Dann fahrt doch weiter, verdammt noch mal! Bin ich denn nur von Arschlöchern umgeben?«

      Wie wenig es doch brauchte, ihn seiner Fassung zu berauben … nur ein paar Schritte zur richtigen Zeit auf den Asphalt. Ein Mensch auf einem Pulverfass. Kim gefiel das.

      »Das wolltest du wohl gerne?«, sagte sie.

      Haifisch riss den Kopf herum. »Was? Was wollte ich gerne?«

      »Mich anfahren. Ich glaube, du wolltest mich eben liebend gerne plattfahren.« Es war lediglich eine Feststellung von ihr. Eine Provokation sollte es gar nicht sein … na gut, ein bisschen berechnend war es schon. Sie dachte darüber nach, wie man dafür sorgen könnte, dass diese im braven Anzug verpackte Bombe endgültig hochging.

      »Ich sag dir, was ich denke«, brüllte er. »Wenn du so weiter machst, werde ich dich eines Tages wie eine aufgeplatzte Katze von der Straße kratzen!«

       Oha! Ein Geständnis unverhohlener Mordgier?

      Sie grinste extra provokant. »Zu dumm, wenn dich hier alle beobachten. Sieh dich mal um, Haifisch. Du solltest schön aufpassen, dass mir in Zukunft eben so was nicht passiert, sonst bist du der allererste Verdächtige.«

      Er starrte Kim an und musterte sie von oben bis unten. Haifisch betrachtete noch eine Weile Kims Gipsarm, schüttelte den wieder blass gewordenen Kopf und stieg in sein Auto ein. Bevor er die Tür zuknallte, warnte er sie: »Und sag deinem Freund da hinten, wenn ich seinen Film auf YouTube entdecke, kann er sich auf was gefasst machen! Ich arbeite in einer Unternehmensberatung. Da kennt man eine Menge Anwälte.«

      Damit zog er die Tür zu und reihte sich, nicht ohne zu hupen, in den stockenden Verkehr auf der Kreuzung ein.

      Kim blickte ihm nach. Unternehmensberater … so so … das passte irgendwie. Schade, dass er schon aufgab für heute. Fast war sie versucht, ihm nachzuwinken.

      Nachdem sie sich gemeinsam mit Nico durch den Verkehr zur anderen Straßenseite geschlängelt hatte, klatschten sie mit Benni und Lena ab.

      Lena hielt sich noch immer den Bauch vor Lachen, oder wie man das Nichts an ihrem Körper so nennen konnte. Sie warf ihre langen, völlig unpassend schwarz gefärbten Haare nach hinten. »Ich hab wirklich gedacht, der springt dir gleich an den Hals.«

      Nico stellte sich hinter Benni, um in dessen Smartphone zu starren. »Nein, er fährt sie platt, hat er gesagt. Wie war das noch, Kim? Das mit der Katze am Boden und dem Kratzen?«, fragte er nebenbei.

      »Beim nächsten Mal hat sie ihn soweit«, pflichtete Benni bei, ohne aufzublicken.

      »Zeig mal her.« Eigentlich wollte sich Kim nicht auf Bennis Filmen sehen. Sie mochte die Art nicht, wie er sie ins Bild presste. Auch wenn sie mit ihm bisher ganz gut auskam – Benni war nur bedingt ein Freund. Zwar fügte er sich meist widerspruchslos in alles, was Kim in ihrer kleinen Gemeinschaft anregte und ausheckte,