während sich das von Lu verbreitert.
»Ach, was denn? Haben Sie gedacht, dass die Akten längst versiegelt sind? Tatsächlich? Wenn ein Teenager zwei Richter umbringt, kann man das nicht geheim halten, Lowell«, erklärt ihm Lu, die sich wieder dem Tablet zuwendet und weiterliest. »Jugendknast bis zum achtzehnten Lebensjahr, dann ins Oregon State Penitentiary überwiesen. Da noch mal drei Jahre – und dann haben Sie offenbar rausgekriegt, wie man ausbrechen kann.«
»War nicht schwer.« Lowell zuckt mit den Achseln. »Ist nicht gerade von einem Genie gebaut worden.«
»Drei Monate lang auf der Flucht, bis ein State Trooper Sie in Enterprise entdeckt hat«, meint Lu. Sie hält inne und sieht zu Lowell rüber. »Wieso sind Sie denn in Oregon geblieben, Lowell? Drei Monate, und Sie sind nur von Salem bis nach Enterprise gekommen? Man braucht doch keine drei Monate, um über die Berge ins östliche Oregon zu kommen.«
»Ich gehe ziemlich langsam.« Lowell zuckt wieder mit den Achseln.
»Aber töten tun Sie offensichtlich schnell«, antwortet Lu.
Sie kann sehen, dass die anderen Gefangenen genau zuhören. Die meisten Männer im Konvoi sind für den Großteil ihrer Gefangenschaft im Staatsgefängnis von Colorado in Einzelhaft gewesen. Etwas anderem, als nur ihren eigenen Körpergeräuschen zuhören zu können, muss eine wahre Wohltat für sie sein.
»Sie haben vierundachtzig Mal auf den Trooper eingestochen«, fährt Lu fort. »Dreiundachtzig Mal hat wohl nicht gereicht?«
Ein paar Gefangene lachen.
»Zeigen Sie mal etwas Respekt«, brummt Muldoon. Lu starrt ihn verärgert an, und er dreht sich hastig weg.
»Dann haben Sie den Trooper umgebracht und in aller Ruhe gewartet, bis seine Verstärkung kam, bevor Sie diese ebenfalls getötet haben, eine Geisel nahmen und in Richtung Norden zur Grenze nach Washington State geflüchtet sind«, zählt Lu auf.
Sie liest weiter und sieht Lowell dann eine lange Zeit lang an. Der Mann weicht ihrem Blick nicht aus, aber sein Gehabe hat ganz offensichtlich etwas gelitten. Lu schüttelt den Kopf und legt das Tablet wieder weg.
»Wer war sie?«, fragt Lu nun ganz nebenbei. »Das kleine Mädchen, das Sie als Geisel genommen haben. Sie haben es über die Grenze nach Washington geschafft und sind dann weiter bis nach Lewiston, Idaho. Danach haben Sie sie in einem Denny's freigelassen und sich auf den Weg nach Kanada gemacht.«
Lowell schweigt.
»Die Grenze zwischen zwei Bundesstaaten zu überqueren, hat das FBI letztendlich auf den Plan gebracht, und plötzlich sind Sie der meistgesuchte Bösewicht du jour«, meint Lu. »Das ist Französisch und heißt …«
»Ich weiß, was du jour heißt«, sagt Lowell.
»Genau, das wissen Sie«, antwortet Lu. »Sie haben sich ja in der Haft schließlich Spanisch, Französisch, Italienisch, Chinesisch und Deutsch beigebracht. Sie haben einen IQ, der ungefähr hundertsechzig beträgt.« Lu wedelt mit der Hand in Richtung der anderen Gefangenen. »Die meisten dieser Jungs sind kaum clever genug, daran zu denken, sich den Arsch abzuwischen, nachdem sie geschissen haben – aber Sie nicht. Denn Sie sind ein Genie. Und trotzdem haben Sie das Mädchen, Ihr einziges Druckmittel, einfach so freigelassen. Wieso?«
Lowell antwortet nicht.
»Tja, genau diese Antwort haben Sie dem FBI auch gegeben«, stellt Lu fest. »Die haben Ihre Vergangenheit überprüft und konnten keinerlei Verbindung zwischen Ihnen und diesem Mädchen feststellen. Ihr Kind konnte sie ja nicht gewesen sein, weil sie wie alt war … vier Jahre?«
»Fünf«, erwidert Lowell.
»Fünf, genau«, meint Lu nickend. »Sie waren also folglich im Gefängnis, als sie geboren wurde. Die Eltern sind nicht mal aus Oregon gewesen, sondern waren nur Touristen – sind mit ihrem Kind im Urlaub gewesen. Und so ein gewalttätiger Mann wie Sie lässt die Kleine einfach so laufen. Sie hätten sie ganz bis zur Grenze bei sich behalten können, wären vielleicht sogar hinübergekommen, wenn Sie sie dabeigehabt hätten. Mit den Kanadiern lässt es sich nämlich bestimmt etwas leichter verhandeln als mit dem FBI.«
Lowell starrt Lu schweigend an.
»Sie haben also zwei Richter ermordet, einen State Trooper erstochen und danach noch ein paar Leute umgebracht«, fasst Lu zusammen. »Aber das kleine Mädchen haben Sie freigelassen. Unverletzt und unberührt. Sie hatte zwar Hunger und war etwas dehydriert, aber vollkommen unversehrt.« Lu schaut zu den anderen Gefangenen. »Sie haben sie also besser behandelt, als so manch einer hier, das getan hätte.«
Einige der Insassen weichen Lus Blick aus, während andere sie mit Augen voller Gewalt und Lust anstarren. Sie wendet sich nun wieder dem Tablet zu.
»Innerhalb von nur einem Monat haben Sie bereits vier Mitgefangene ermordet«, erklärt Lu und schaut wieder zu Lowell hoch. »Einen nach dem anderen. Sie sind in der Cafeteria einfach die Schlange entlanggegangen und haben sie hingerichtet. Die erste Leiche war noch gar nicht zu Boden gefallen, als Sie schon den Vierten umgebracht hatten. Die Wärter wussten gar nicht, was passiert war, bis die Insassen plötzlich zu schreien anfingen.«
Lowell zuckt mit den Schultern. »Es waren nicht genügend Fischstäbchen für alle da“, antwortet Lowell kalt. »Da musste ich die Nachfrage halt etwas ausdünnen.«
»Checkpoint, Marshal«, sagt der Fahrer jetzt, als der Konvoi langsamer wird. »Sieht so aus, als ob die Verbindung zur I-90 gesperrt ist.«
»Wir wussten ja, dass das auf uns zukommt«, meint Lu und steht auf. Sie nimmt sich wieder das Klemmbrett und geht zur Tür, als der Bus anhält.
Den ganzen Konvoi entlang stehen die US-Marshals mit ihren Klemmbrettern in der Hand vor den Bussen und warten darauf, dass ein Wachposten vom Checkpoint zu ihnen kommt. Langsam, so als hätte er alle Zeit der Welt, schlendert ein Soldat von Marshal zu Marshal, sieht sich in aller Ruhe die Papiere an, besteigt jeden Bus, kommt wieder raus und sieht noch einmal die Papiere durch. Anschließend nickt er und geht zum Nächsten.
»Macht's Ihnen Spaß?«, fragt Lu, als der Soldat sie erreicht.
»Ich mach nur meinen Job«, antwortet der Soldat knapp.
»Werden Sie vielleicht pro Stunde bezahlt? Ich nämlich nicht, und ich muss mich an einen Zeitplan halten«, fährt Lu ihn wütend an. »Bringen wir's also hinter uns, Sergeant.«
Der Sergeant hält beim Einsteigen in Lus Bus kurz inne und dreht sich um, um sie anzusehen. »Ich denke, Sie sollten besser Ihren Boss holen und mir zum Checkpoint folgen. Mir gefällt dieser Bus nämlich ganz und gar nicht.«
Lu starrt den Mann ein paar Sekunden lang an und muss sich bemühen, nicht laut lachend herauszuplatzen. »Du bist ein Arschloch, Bolton.«
»Du musst es ja wissen, Lu«, sagt der Sergeant grinsend und wird schnell wieder ernst. »Weiß deine Crew denn, wer ich bin?«
»Keine Ahnung«, erwidert Lu. »Wie viele Männer hast du denn dabei?«
»Vier«, antwortet Bolton. »Soll ich deinen Leuten mal einen kleinen Schrecken einjagen?«
»Nein«, sagt Lu. »Aber vielleicht wäre eine kleine Kostprobe nicht schlecht.« Sie betrachtet ihn von oben bis unten. »Die National Guard Uniform gefällt mir.«
»So fällt man nicht weiter auf.« Bolton zuckt mit den Achseln. »An was für eine Kostprobe hast du denn gedacht?«
»Vielleicht etwas von oben?«, antwortet Lu.
»Kein Problem«, entgegnet Bolton grinsend.
Er ist über zwei Meter groß, hat einen breiten Brustkorb und Arme, die fast so dick wie seine Beine sind, aber er bewegt sich mit einer versteckten Eleganz, die Lu schon immer gewundert hat. Er drückt zwei Finger auf einen fleischfarbenen Draht um seinen Hals und fängt leise an zu reden.
»Hey, Jungs? Lasst uns unsere Mitfahrgelegenheiten mal nett willkommen heißen«, flüstert Bolton. »Vielleicht mit einem freundlichen Winken von oben?«